Olga Tokarczuk - Unrast

Was für ein Roman! So vielfältig wie die Länder der Erde, in die man reisen kann, so voll an überbordender Phantasie und unglaublichem Wissen und Gedanken-reichtum, so vielschichtig in seiner Komposition - bestehend aus mehreren längeren Erzählungen, mit Einschüben, die Religion, Philosophie, Körperliches, Vergangenes, Eingebildetes und noch viel                                           mehr behandeln, bedenken, betasten ...

 

Es geht um die Bewegung von Ort zu Ort, mit welchem Fort-bewegungsmittel auch immer. Um die Spur, die dabei gezogen wird, um das, was die Reise im Reisenden zurück-lässt, wie sie ihn verändert - befördert - es geht auch um geistige Beweglichkeit, nicht immer muss Reisen eine körperliche Tätigkeit sein. 

Körper als solche nehmen jedoch viel Raum ein in diesem Roman, der keinen Helden hat und keine Geschichte im klassischen Sinne erzählt. Viel mehr erzählt Olga Tokarczuk,  (Nobelpreisträgerin des Jahres 2018, geboren 1962 in Polen), wie die Zeit auf das Leben, das Lebendige, einwirkt.

 

"Als ich so in den Anblick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass aller Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird, als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann."

 

Diese Erkenntnis gewinnt die Ich-Erzählerin als Kind.

Von da an wird eine Unrast sie begleiten, Teil ihrer Persön-lichkeit sein. 

 

In diesem Roman wechseln sich viele Formen des Erzählens ab. Es gibt Novellen, kleine Episoden, Essays und Analysen, Briefe werden geschrieben, Gedanken zu allen möglichen Themen aufgezeichnet. Um einen Eindruck zu geben hier ein paar zufällig ausgewählte Überschriften:

"Vertreter der Medien", "Atatürks Reformen", "Dinge, nicht von Menschenhand gemacht", "Die Verortung der Leere", "Kunstkammer" - Olga Tokarczuk ist eine außerordentlich bewegliche Schriftstellerin mit einem unglaublichen Schatz an Wissen und Weitsicht und es stehen ihr diverse Sprachen zur Verfügung, nicht im Sinne von Fremdsprachen, sondern von Tonlagen, die dem Erzählten entsprechen.

 

So ist die Erzählung, in deren Mittelpunkt ein Wüstenfürst steht, der aus seinem eigenen Reich fliehen möchte, in einem anderen Ton erzählt als "Die Reisen des Doktor Blau" oder die Geschichte des Ehepaares Kunicki, das sich auf einer Reise verliert, zuerst ganz konkret, nach der Rückkehr geht das Vertrauen verloren und endet womöglich im Wahnsinn.

 

Dem Thema "Körper" geht die Autorin in diversen Episoden nach. Es ist viel zu lesen über die Möglichkeiten der Konservierung von Körpern. Nicht im kosmetischen Sinne der Erhaltung von Schönheit, sondern wie werden Menschen oder Tiere behandelt, um sie vor dem Verfall zu retten.

Diverse Sammlungen in Gläsern und Flüssigkeiten lernt

der Leser kennen, abgetrennte Köperteile und Phantom-schmerz. Auch die Frage der in jeder Kultur wichtigen Bestattung - versus westlich-moderner Abweichung von dieser Tradition - (man denke an menschliche Exponate in Museen oder Kuriositätenkabinetten) - wird gestellt. 

Warum diese Faszination für das Konservieren? 

 

Weil es ein Versuch ist, die Zeit auszutricksen?

 

Die letzte Episode des Romans trägt die Überschrift "Boarding", hierin macht sich Olga Tokarczuk Gedanken

über das Schreiben von Tagebüchern:

"Geniert euch nicht - ihr anderen, meine ich, die ihr auch aufs Einsteigen wartet -, nehmt eure Tagebücher raus und schreibt. Wir, die Aufschreibenden, sind ja zu vielen. Wir lassen uns nicht anmerken, dass wir einander betrachten, wir heben den Blick nicht von unseren Schuhen. Wir werden uns gegenseitig aufschreiben, das ist die sicherste Form der Kommunikation, wir werden einander in Buchstaben und Initialen verwandeln und auf den Seiten der Notizbücher verewigen, wir werden uns plastinieren, ins Formalin der Sätze versenken."

 

 

Nicht zufällig trägt der Roman den Titel "Unrast" und nicht beispielsweise "Bewegung" - ihm ist das Wort "Rast" ebenso eingeschrieben. Diese beiden Pole prägen das Leben der vielen Helden des Romans, der Rast und Unrast gegenüber stellt oder ineinander webt oder miteinander verzahnt.

Der darüber reflektiert und wie ein Schmetterling umflattert und wohl mehrere Male gelesen werden will, um all die Worte aufnehmen zu können.

 

Was für ein Roman!!

Um ein solches Werk adäquat zu übersetzen, braucht es eine Übersetzerin wie Esther Kinsky!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Olga Tokarczuk: Unrast

Übersetzt von Esther Kinsky

Kampa Verlag, 2019, 464 Seiten

(Polnische Originalausgabe 2007)