Dato Turaschwili - Das andere Amsterdam

Der georgische Schriftsteller Dato  Turaschwili (geb. 1966) verbringt aufgrund der Einladung der Nieder-ländischen Stiftung für Literatur drei Monate in Amsterdam. In jener Stadt, die für viele Menschen seiner Generation "Traumziel" war, das "Symbol der westlichen Welt." Er fühlt sich nicht fremd, denn "zur Zeit des Zweiten Weltkrieges hat mein Großvater hier (irgendwo in der Umgebung von Amsterdam) gekämpft", wie er bereits auf der ersten Seite des Romans schreibt.

 

So ist sein Aufenthalt in den Niederlanden eine Erkundung der Stadt, die er über alle Maßen liebt.

Ihm gefallen die hübschen Holländerinnen, die vielen Radfahrer, der tolerante Geist, die Cafés, Museen und Buch-handlungen. Er wird nicht müde die Vorteile Hollands zu betonen, was hat dieses Land seiner Heimat Georgien nicht alles voraus. 

 

Doch die Zeit in der Traumstadt ist auch eine Auseinander-setzung mit seiner Heimat, die aus der Ferne vielleicht besser gelingt.

 

An einem Punkt verknüpfen sich die beiden Länder sehr eng und direkt. Das ist der Aufstand der Georgier gegen die Deutschen im Jahr 1945 auf der niederländischen Insel Texel.

 

In aller Kürze: die Georgier auf Texel (stark befestigter Teil des Atlantikwalls) waren Kriegsgefangene, die auf Seiten der Wehrmacht kämpften. Am 5. April erhoben sie sich gegen die Deutschen, die Kämpfe dauerten bis zum 20. Mai 1945.

Da sie über das Kriegsende hinausgingen, wird Texel auch "Europas letztes Schlachtfeld" genannt, das schließlich von den Kanadiern befriedet wurde. Von 800 Georgiern überlebten gut 200, viele Holländer kamen zu Tode und viele deutsche Soldaten. Die Zahlen schwanken hier zwischen 800 und 2000.

 

Dato Turaschwilis Großvater Melenty Maschulia, geb. 1917, floh Ende 1944 aus einem Lager in Périgueux nach Holland. Nach Texel schaffte er es nicht - oder vielleicht doch?

Auch das möchte der Schriftsteller herausfinden.

 

Absolut außergewöhnlich ist der Grund, warum der Großvater nach Holland ging. Auf einer Wiese liegend und nach oben blickend, sah er, wie plötzlich ein Mensch aus dem Himmel fiel. Dieser Fallschirmspringer entpuppte sich als eine wunderschöne Holländerin. Sie könnte die Geliebte Melentys geworden sein (wie seine Frau im fernen Tiflis vermutete), sofern er sie in Amsterdam gefunden hat...

 

Das ist ein schönes Märchen innerhalb des Romans,

der gekonnt die persönlichen Biographien mit dem Zeit-geschehen verknüpft.

Dato Turaschwili geht ausführlich auf den Aufstand ein, auf die Lage in Europa wie in Georgien, auf die Sympathien der Georgier für die Deutschen während des Dritten Reiches, denn wer sonst hätte sie von der sowjetischen Besatzung befreien können? 

 

Man lernt viel über die Geschichte und die Verflechtungen, und das bei sehr angenehmer Lektüre eines Romans,

dessen Autor seinen Gedanken freien Lauf lässt, der gerne Seitenwege nimmt, die häufig in unerwartete Gefilde führen.

 

Und dann gibt es noch eine zweite Stimme in diesem Roman. Eine dem Schriftsteller unbekannte auf Texel lebende Georgierin schreibt ihm regelmäßig E-Mails. 

Sie hat ihn zu ihrem "Tagebuch" auserkoren, lässt ihre Gedanken ebenfalls mäandern, erzählt ihm, was ihr gerade einfällt. 

Auch hier verschränken sich Aussagen zur Geschichte mit persönlichen und auch ganz intimen Erlebnissen, wie ihrer Trauer über den Verlust ihrer ersten Liebe.

 

Diese zweite, weibliche Perspektive tut dem Roman gut.

Die Frau hat viel zu erzählen aus ihrer Zeit in Georgien, ihrer unglücklichen Ehe, der Beziehung ihrer Mutter zu ihrem Stiefvater, dem jungen Mann damals - aus all diesen kleinen Geschichten kristallisiert sich ein Bild der georgischen Mentalität heraus, vor allem der Männer, und auch ihre ganz eigenen Erkenntnisse über die Liebe und das Leben.

Und sie erzählt auf eine andere Art von der Vergangenheit und der Gegenwart auf Texel, weil sie schon länger hier lebt und Kontakt zu den Inselbewohnern hat. Das ist ein anderer Zugang zur Geschichte als der des in Archiven suchenden Schriftstellers.

 

Der vielseitige und in diversen Tonlagen verfasste Roman endet mit einer Verspätung. Dato Turaschwili hat sich zu spät entschlossen, endlich nach Texel zu fahren.

 

"Ich saß am Fenster und spürte, wie mir die Tränen die Wangen herunterrollten, wie die Regentropfen an den Fensterscheiben. Ich hörte zum wer weiß wievielten Mal

das musikalische Geschenk aus ihrer letzten E-Mail und wünschte mir, das Ganze wäre eine große Lüge gewesen,

ein böser Witz, und ich würde ihren allerletzten Brief nie bekommen..."

 

Die Georgierin war nicht aus dem Himmel gefallen, aber ein schöner Zu-Fall für den Schriftsteller war sie allemal...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dato Turaschwili: Das andere Amsterdam

Aus dem Georgischen von Katja Wolters

Weidle Verlag, 2021, 256 Seiten