Tarjei Vesaas - Das Eis-Schloss

"Es war ein Zauberschloss.

Man musste einfach versuchen, hineinzukommen, wenn es einen Eingang gab! Es war sicher voller schöner Gänge und Portale - da musste man rein. Es sah so merkwürdig aus, dass Unn alles außer dem Eis-Palast vergaß. Da hinein wollte sie mit allen Sinnen. " Unn ist "verzaubert" und "verhext", "mit weit aufgesperrten Augen starrte sie in ein fremdartiges                                                                     Märchen hinein."

 

Unn ist ein elfjähriges Mädchen, seit einiger Zeit lebt sie bei ihrer Tante in einem kleinen norwegischen Dorf.

Ihre Mutter ist gestorben, ihren Vater kennt sie nicht.

Sie geht zur Schule, und obwohl sie freundlich aufgenommen und in den Kreis der Kinder ihrer Klasse gebeten wurde, hält sie sich abseits. Sie steht am Rand, schaut zu. Doch nicht in der Art einer Verlorenen, sie steht "stark an ihrem einsamen Platz auf dem Schulhof".

 

Vor allem Siss, die Anführerin der Kinder (sie hat immer die besten Ideen, ihre Position ergab sich ganz natürlich), ist sehr an Unn interessiert. "Die will ich kennenlernen!" schießt ihr sofort als sie sie sieht, durch den Kopf.

 

Und tatsächlich: an einem Abend im Spätherbst, es herrscht schon strenger Frost, geht sie zu Unn und ihrer Tante.

Sie wird freundlich empfangen, die Mädchen ziehen sich in Unns Zimmer zurück. Gespannte Erwartung liegt in der Luft.

"Sicher erfahre ich was Neues bei ihr. Hab den ganzen Herbst darauf gewartet, seit dem ersten Tag, als die fremde Unn in die Schule kam. Ich weiß nicht warum", denkt Siss.

 

Es ist eine aufwühlende Begegnung. Es entsteht ein Moment, der wie der Beginn einer großen Liebe beschrieben wird,

als die beiden gleichaltrigen Mädchen zusammen in einen Spiegel schauen und einander "anleuchten". "Schimmernd" stehen sie voreinander, einen Augenblick lang ist "alles da, dann war es weg." 

Der entscheidende Moment ist der, in dem Unn sagt, sie wolle Siss etwas erzählen, das sie noch nie jemandem erzählt hat. Dann: "Ich kann es nicht, so!"

 

Siss Geheimnis ist ihr Wissen, dass es ein Geheimnis gibt.

Sie verspricht der Freundin wortlos, dieses Schweigen zu bewahren.

 

Am nächten Tag ist Unn verschwunden. Sie wolllte nach diesem ganz besonderen Abend Siss nicht am Morgen in der Schule begegnen, braucht ein bisschen Abstand. 

Sie wandert zum Eis-Schloss.

 

Unn erliegt vollkommen dem Zauber des Schlosses, sie gerät in einen Rauschzustand.

Sie geht hinein, verliert sich in den Tiefen der verschiedenen Räume, die sie durchschreitet. Immer weiter hinein, fasziniert von den Farben, den Spiegelungen, dem Licht, den Formen des gefrorenen Wassers - die Beschreibungen dieser ganz speziellen Landschaft sind meisterhaft ausgeführt.

Klar wie Eis, sehr bildlich, dabei ganz tief die Wahrnehmung des Mädchens und ihre Gefühle reflektierend, die zwischen glücklichem Taumel und tiefster Angst schwanken - alleine wegen dieses Kapitels lohnt sich die Lektüre des Buches.

 

"Dann ging sie quer hinüber. Dabei dachte sie an ihre Mutter und an Siss und an das andere - sie ertrug es einen kleinen, kleinen Moment lang. Der Ruf hatte für eine Öffnung gesorgt. Jetzt schlug sie wieder zu. Warum bin ich hier?"

 

Am Abend beginnt eine Suchaktion. Als es Nacht wird gehen nur noch die Männer zusammen über den See zum Fluss und zum Eis-Schloss hin - Siss darf als einziges Kind mit.

Sie glaubt, das Verschwinden hätte mit ihr zu tun.

Das ganze Dorf glaubt das. Immer wieder wird sie gefragt: Was hat Unn gesagt? Siss kann auf diese Frage nicht antworten.

Das Geheimnis ist, dass Unn "es" nicht sagen konnte.

 

Alles ändert sich nun. Siss, die Unn das Versprechen gegeben hatte, nur noch an sie zu denken, zieht sich zurück.

Nimmt Unns Platz am Rand ein, gibt ihre bisherige Rolle auf. Alles andere erscheint ihr ein Verrat an der Freundin zu sein.

Die Tante ist es, die Siss ins Leben zurückholt, sie von ihrem Versprechen entbindet. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg für Siss, die sich lange nicht davon lösen kann.

 

 

Der Roman erzählt von bitterer Einsamkeit, Stärke und Mut, von der Suche nach Gemeinschaft und vor allem von helfender Zurückhaltung und von Freundschaft.

Die Erwachsenen begleiten Siss auf dem Weg zurück in ihr Leben, indem sie die richtigen Fragen stellen, vor allem aber im richtigen Moment schweigen.

Die Kinder begreifen instinktiv, wie sie Siss unterstützen können, wann es Zeit ist, sie aus ihrer Versenkung herauszu-holen. Es gelingt ihnen mit wenigen Worten zum richtigen Zeitpunkt. 

 

In drei Teile ist der Roman gegliedert: "Siss und Unn", widmet sich ihrer Begegnung, dem Beginn ihrer Freundschaft. "Verschneite Brücken", beschreibt Unns Verschwinden, die Suche nach ihr, die Hoffnung, Angst, die Einsamkeit.

Der dritte Teil, "Holzbläser", erzählt von Siss´ Weg zurück

in die Gemeinschaft, begleitet von neuen Tönen rechts und links des Weges, die die Wand aus Dunkelheit ablösen.

 

Der Leser taucht dank der poetischen Sprache, der starken Bilder und der suggestiven Kraft der Sprache Vesaas´ ganz tief in die Figuren und in das Geschehen ein, nimmt teil an der Entwicklung der Mädchen (und der Nebenfiguren, die ebenfalls präzise beschrieben werden), an der Sehnsucht nach Leben. Und dem Verantwortungsbewusstsein der Menschen, der Fürsorge der Gemeinschaft.

Das ist beeindruckend.

 

Tarjei Vesaas (1897-1970) verbrachte sein Leben nach ausgedehnten Reisen durch Europa in den zwanziger und dreißiger Jahren auf dem norwegischen Land. Sein Werk,

das auch Gedichte und Dramen umfasst, ist jedoch in keinster Weise eine verklärte oder verklärende Sichtweise auf das Landleben. Sein Stil ist modern, lyrisch, er ist dem Symbolismus nicht abgeneigt - manches bleibt rätselhaft.

Mehrmals wurde er für den Nobelpreis vorgeschlagen, für das "Eis-Schloss" erhielt er 1964 den wichtigsten Literatur-preis Skandinaviens. 

 

Doris Lessing bezeichnet den Roman in ihrem Nachwort als "einzigartig, unvergesslich, außergewöhnlich" - dem kann ich mich nur anschließen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss

Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort von Doris Lessing

Guggolz Verlag, 2019, 199 Seiten

(Originalausgabe 1963)