Metta Victor - Tagebuch von nem schlimmen Schlingel

Nein, die Überschrift enthält keinen Tippfehler. Das Tagebuch des acht-jährigen Georgie ist nicht in der Schriftsprache verfasst, sondern so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Mag sein, dass die Autorin damit dem bereits vier Jahre zuvor erschienenen Tom Sawyer von Mark Twain folgte.

Dieser erschien 1876, "A Bad Boy´s Diary" stammt aus dem Jahr 1880.

 

Darin erschöpfen sich die Parallelen nicht, wobei Metta Victors Geschichte bzw die vielen kleinen Geschichten, aus denen sich das Buch zusammensetzt, weniger gesellschafts-kritisch orientiert ist.

 

Der Held Georgie lebt mit seinen drei älteren Schwestern im Haus der Eltern. Diese sind gut situiert, es gibt eine Köchin, Dienstmädchen und Stallburschen.

 

Georgie weiß, dass er ein ganz schlimmes Kind ist.

All seine Streiche vertraut er seinem Tagebuch an und beklagt darin häufig, dass das einfach so passiert ist, dass

er das überhaupt nicht wollte und er gelobt Besserung.

 

Auffallend ist dann jedoch, dass er immer wieder einfügt,

er sei nicht schuld. Stolpert die Schwester mit einem vollen Tablett über sein Bein (das er natürlich extra gestellt hat),

ist sie eine miserable Bedienung. 

Er ruiniert garantiert jede Party seiner Schwestern, entweder dadurch, dass er dafür sorgt, dass diese gar nicht erst statt-findet, oder durch seine Aussagen, die nicht jedem schmecken. 

 

Dies sind die harmloseren Beispiele. Nicht selten verursacht er eine Explosion, fährt freiwillig oder unfreiwillig weit weg mit dem Zug und muss dann gesucht und zurückgeholt werden. Oder er bringt auch gern mal andere Menschen in Schwierigkeiten, wie zum Beispiel ein kleines Mädchen, das er fesselt und irgendwo versteckt - das ist seine Interpre-tation des Spieles "Entführung".

Oder er holt die in ein Wasserfass gefallene Katze nicht heraus - sollen die anderen sich doch wundern, wenn das Wasser anfängt zu stinken.

 

Das auffallendste Merkmal der dreißig Geschichten, die das Tagebuch umfasst, ist die Abwesenheit von Moral.

Da die Taten Georgies nicht von einem Erzähler berichtet und kommentiert werden, er nicht als ein abschreckendes Beispiel der Verderbtheit dargestellt wird, sondern der Junge seine Erlebnisse selbst im Tagebuch niederschreibt, in Alltagssprache und gewürzt mit Kraftausdrücken, erhebt er sich selbst in den Rang eines Anarchisten.

 

Er ist neugierig, geradezu von einem Forscherdrang beseelt - was kann er dafür, dass seine Umwelt nicht klar kommt mit ihm?

 

Die Übersetzung folgt Georgies eigentümlicher Sprache. 

Es wurden weder Grammatik noch Rechtschreibung `korrigiert`, noch seine Redeweise geglättet.

Das ist wunderbar, denn so kann man sich einfach nur vergnügen mit diesen Geschichten. Auch wenn man nicht umhin kommt, Mitleid mit den Opfern Georgies zu haben.

 

Was immer wieder für Tränen bei den Schwestern oder Eltern sorgt, ist seine ungeschminkte Art, einfach nur die Wahrheit zu sagen. Er hat noch nicht gelernt, wie man sich

in der Gesellschaft verhält, was man wo sagen darf, und

was nicht.

Hemmungslos trägt er zum Beispiel dem Erbonkel zu,

was in der Familie über ihn erzählt wird - das führt zu einer deutlichen Korrektur des Testaments. Dabei hat Georgie nur weitergesagt, was er zu Hause hörte.

 

Georgies Tagebuch hat nicht den Anspruch, die Missstände der Gesellschaft aufzudecken. Durch sein Herumkommen im Zug, auf einem Schiff, sein kurzer Aufenthalt im Internat lassen jedoch Einblicke in die Welt, in der er lebt, zu.

Besonders lustig: das Trara, Theater oder Zirkus des Präsidentschaftswahlkampfes - auch darin mischt der Junge mit. Und dem heutigen Leser kommt manches bekannt vor.

 

Seine Schöpferin Metta Victor veröffentlichte ihren "Bad Boy" anonym, da sie fürchtete, ihren guten Ruf als Verfasserin romantischer Groschenhefte zu ruinieren.

Doch ihr "Tagebuch" wurde berühmter als ihre süßen Schmonzetten, ihr anarchischer Lausbub eroberte die Leser im Nu.

 

Die Episoden sind einfach mal was ganz anderes, frech, frisch und frei, böse, lustig, abenteuerlich....

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Metta Victor: Tagebuch von nem schlimmen Schlingel

Übersetzt von Ni Gudix

Killroymedia, 2010, 208 Seiten