Edith Wharton -

Die verborgene Leidenschaft der Lily Bart

Dieser glänzend geschriebene, psycho-logisch bis ins Feinste ausgearbeitete Gesellschaftsroman spielt am Anfang des 20. Jahrhunderts hauptsächlich in New York. Protagonistin ist die unvergleichlich schöne, anmutige und mit jedem sonst denkbaren positiven Attribut ausgestattete Lily Bart, eine unverheiratete Frau um die Dreißig.

Sie möchte nach ganz oben.

 

Der 460 Seiten starke Roman besteht aus zwei Teilen,

ganz schlicht "Erstes Buch" und "Zweites Buch" überschrieben. Beide Bücher beginnen und enden mit dem Anwalt Lawrence Selden, einem Mann in Lilys Alter, mit dem sie eine lockere Freundschaft verbindet. Eigentlich ist es nicht "nur" eine Freundschaft. In Wirklichkeit ist Selden der einzige Mann, der Lilys Herz ein wenig aus dem Takt bringen kann, und auch er ist ihr sehr herzlich zugeneigt.

Doch beide sind in ihren Gefühlsäußerungen eher zurück-haltend, verlegen sich auf den ironischen Ton, kreisen umeinander, eingebettet in die gesellschaftlichen Umgangsformen.

 

Selden gehört eher am Rande zu der Gesellschaft, zu der Lily Zugang und einen festen Platz sucht. Ihm fehlen die nötigen Mittel und er ist auch kein Mann, der seinen Lebenssinn in Bridgepartien, Ausfahrten aufs Land und großen Empfängen sieht.

 

Lily stammt auf guter Familie. Doch als sie neunzehn ist, ändert sich schlagartig alles. Eines Abends sagt ihr Vater:

"Ich bin ruiniert!" Nicht lange darauf stirbt er, zwei Jahre später auch ihre Mutter, "an unüberwindbarem Ekel.

Sie hasste Schäbigkeit und das Schicksal bescherte ihr ein schäbiges Leben." Lily kommt zu ihrer Tante Mrs. Peniston. Diese ist gut betucht, doch Lily bräuchte wesentlich mehr Geld, als die Tante ihr zukommen lässt.

 

Vor ihrem Tod hatte die Mutter Lilys Schönheit als "ihre letzte Aktie, ihre Kernanlage, deren Gewinne ihnen ein

neues Leben sichern sollte", betrachtet. Und Lily eingeschärft, sie "solle alles daran setzen, aus dieser Schäbigkeit zu entfliehen."

 

Das bedeutet im Klartext, sich einen möglichst reichen Mann zu suchen, denn eine andere Möglichkeit gibt es für eine Frau nicht. An Bewerbern mangelt es dann auch nicht, Lily spielt ihr Spiel sehr geschickt, sie weiß sich in Szene zu setzen,

ihr Benehmen ist tadellos, sie ist gern gesehener Gast in verschiedenen guten Häusern. Das übersteigt ihre Mittel,

sie steht immer am Rand des Ruins. All die teuren Kleider, der Schmuck, die Bridgeabende, bei denen sie nicht immer gewinnt. Ihr Leben steht auf wacklichen Füßen, doch sie scheint die Souveränität in Person zu sein.

 

Im ersten Teil des Romans werden sämtliche Personen eingeführt, mit denen Lily zu tun hat. Bis auf zwei Frauen, diese erscheinen erst kurz vor dem Ende.

Da wären außer Selden der neureiche Mr. Rosedale.

Er sucht verzweifelt Zugang zur Oberschicht, die jedoch sehr hochnäsig auf neu erworbenes Geld herabschaut. Ihm fehlt der letzte Schliff, auch Lily blickt mit gewisser Überheblich-keit auf ihn herab. Rosedale lässt nichts unversucht, in die besten Kreise zu gelangen, der geeignete Weg wäre eine Frau,

die aus seinem Geld etwas macht. Auch in diesem persönlichen Zusammenhang spricht er von "Businessplan" und "Transaktion."

 

Ein Heiratskandidat für Lily ist Percy Gryce, schwerreich, langweilig, aber erträglich. Hier zieht Lily ihr Spiel ein

wenig zu sehr in die Länge, vor allem aber wird diese Ehe-schließung von einer ihrer sogenannten Freundinnen hintertrieben.

Wichtig sind die Ehepaare Trenor und Dorset, sowie Mrs. Carry Fisher, eine Art Strippenzieherin, die versucht, die richtigen Leute zusammen zu bringen. Sie wird Lily eine Arbeit vermitteln, die Lily nichts Gutes einbringt.

Außerdem ist Gerty Farish wichtig, eine Cousine Seldens,

die alleine in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt und sich der Wohltätigkeit verschrieben hat. Sie gibt Lily ein Beispiel,

wie sie selbst niemals enden möchte.

 

Gus Trenor gibt vor, Lilys Geld an der Börse zu vermehren. Sie vertraut ihm blind, nimmt froh die Tausender entgegen, die er anscheinend für sie erwirtschaftet hat.

Viel zu spät versteht sie, dass er ihr sein Geld gegeben hat - damit ist sie in den Augen ihrer bisherigen Freunde sehr weit herabgesunken. Gus erwartet zwar keine entsprechenden Gegenleistungen, aber so ganz ohne Dankesbezeugungen in Form von Aufmerksamkeit hat er ihr das Geld auch nicht gegeben.

 

Diese Schuld lastet schwer auf Lily, sie sieht jedoch keine Möglichkeit, sie zurückzuzahlen. Da kommt das Angebot der Dorsets, diese nach Europa zu begleiten, gerade recht.

Lily kann der New Yorker Gesellschaft entfliehen, und eine schöne luxuriöse Zeit auf der Yacht der Dorsets verbringen.

 

Die Ankunft in Monte Carlo ist der Beginn des Zweiten Buches. War im Ersten Buch der Niedergang vorauszuahnen, wird er in diesem Teil vollzogen. 

Lily wird Opfer einer Intrige, von der sie sich nicht mehr erholen wird. Finanziell völlig am Ende, kehrt sie nach New York zurück, lebt bei Mrs. Peniston. Als diese ihr nicht wie erwartet ihr Vermögen vermacht, sondern lediglich zehntausend Dollar, ist kaum mehr eine Rettung für Lily möglich. 

 

Ihr Leben erscheint fortan wie eine Illustration des berühmten "Schicksalsliedes" von Friedrich Hölderlin,

das von den Menschen erzählt, die wie Wasser von Klippe

zu Klippe geworfen ins Ungewisse fallen.

 

In der Begegnung mit einer jungen Frau, der Lily einmal mit Geld ausgeholfen hatte (eine ihrer wenigen karitativen Wohltaten) erkennt Lily:

"Und wenn sie zurückblickte, musste sie erkennen, dass sie niemals eine wirkliche Beziehung zum Leben gehabt hatte. Auch ihre Eltern waren wurzellos gewesen, hierhin und dorthin getrieben mit jedem modischen Wind und ohne gefestigte Persönlichkeit, die sie vor den heftigen Böen geschützt hätte. ... Alle Männer und Frauen, die sie kannte, schwirrten einzeln wie Atome in einem zentrifugalen Tanz.

Ihren ersten, kurzen Einblick in die Kontinuität des Lebens hatte sie an diesem Abend erhalten, in Nettie Struthers Küche. Das arme, kleine Arbeitermädchen hatte die Stärke gefunden, die Scherben seines Lebens aufzusammeln und daraus für sich einen Schutzraum zu bauen; für Lily schien Nettie die zentrale Wahrheit menschlicher Existenz gewonnen zu haben."

 

 

Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto stärker wird ihr Sog auf den Leser. Lily, die zu Beginn nur an sich selbst und ihr eigenes Fortkommen denkt, entwickelt sich zu einer Person, die auch andere sehen kann. Sie ist ein Opfer der Gesellschaft, aber sie hat immer die Nähe dieser Gesellschaft gesucht und wusste um die Gefahren. Vor allem kannte sie die "Macht des Geldes" und die Tatsache, dass sich gesellschaftliche Beliebtheit "auf einem unbezwingbaren Bankkonto" begründet. Und genau das war ja auch ihr Ziel.

 

Sie hat ihren Kopf in den Rachen des Gesellschaftslöwen gesteckt - nie hat sie etwas anderes gelernt, nie hat sie eine Idee von einem anderen Leben entwickelt.

Die Zugeständnisse, die zu machen sie bereit ist, werden immer größer. Doch eine fixe Idee bleibt ihr: sie möchte ihre Schulden an Trenor zurückzahlen. Ist es zu bürgerlich gedacht, wenn man dies als nobles Ansinnen betrachtet?

Für Lily wäre das die Reinwaschung von einer unverschuldet aufgeladenen Schuld - ihre Naivität war zu groß gewesen.

 

Der Roman beschreibt zwei Jahre ihres Lebens, doch auch wenn Jahreszeiten genannt werden, findet die Geschichte in einer Zeitlosigkeit satt, in einer schwebenden Welt, in der es keinen Halt gibt. In dieser Welt wird gespielt, mit Geld, mit Leben. Ein Fixpunkt für Lily ist Selden. Er taucht immer auf, wenn er gebraucht wird. Aber...

 

Edith Whartons (1862-1937) Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, Liebesgeschichte, Charakterstudie, Porträt und Sittengemälde steht den großen und berühmten Romanen von Henry James, mit dem sie auch befreundet ist, in keinster Weise nach.

Ihre eigene, weibliche, Sicht auf die Dinge, ihre Ironie, ihr gekonnter Stil, ihr Vermögen, unterschiedlichste Regungen in einem Satz zusammen zu bringen, ihr Geschick, im Lauf des Romans eine große Spannung aufzubauen (man wünscht, er wäre nicht schon zu Ende, wenn man an diesem angekommen ist), macht ihren Roman zu einem heraus-ragenden Juwel. Sie hat eine komplexe Heldin geschaffen,

in deren Brust mehr als eine Seele wohnt. Sie spiegelt Erfahrungen, die Wharton als Spross einer wohlhabenden New Yorker Familie machte, sie ist aber darüber hinaus eine Figur, die den Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit exemplarisch durchlebt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Edith Wharton: Die verborgene Leidenschaft der Lily Bart

Übersetzt von Heddi Feilhauer

ebersbach & simon, 2018, 464 Seiten

(Originalausgabe 1905)