Michelle Winters - Ich bin ein Laster

Agathe und Réjean wollen in einer Woche ihren zwanzigsten Hochzeitstag feiern. Sie sind wirklich glücklich miteinander, begehren sich wie am ersten Tag, haben keine Kinder.

"Il n´y a que nous" gilt noch immer.

Der Roman spielt irgendwo in Kanada. Dort, wo es noch immer eine Rolle spielt, ob man der französischen oder angelsächsischen Kultur angehört.

Ob man auf Chansons oder Rock steht.

 

Réjean ist ein Riese. Mit seiner Körpergröße beeindruckt der Waldarbeiter jedermann. Doch er ist sehr friedlich, nutzt diese Überlegenheit nicht aus. Agathe führt den Haushalt, kocht göttliche Gerichte, freut sich stets auf die Rückkehr ihres Mannes. Gewöhnlich biegt dieser abends mit seinem Chevy Silverado um die Ecke - dieser Truck ist so etwas wie seine zweite Haut. Stark, zuverlässig, gepflegt.

 

Eine Woche vor dem Hochzeitstag aber verschwindet Réjean spurlos. Sein Truck wurde mit offener Fahrertür am Straßen-rand gefunden, er selbst ist wie vom Erdboden verschluckt.

Die Polizei sucht nur halbherzig, Agathe mit mehr Energie. Ebenfalls ohne Erfolg.

 

Die Kapitel des überaus spannenden, flüssigen und witzigen Romans tragen die Überschriften: "Jetzt" oder "Davor".

Das letzte und längste Kapitel heißt "Ab jetzt", hier werden die Fäden zusammengeführt und der `Fall´- ein Krimi ist diese Liebesgeschichte auch - gelöst. 

 

Heldin des "Jetzt" ist Agathe. Sie beginnt nach Réjeans Verschwinden zu arbeiten, sie muss Geld verdienen.

Kurz nach ihr fängt auch Debbie dort an, eine unabhängige Frau mit Witz und Verstand. Sie bringt Agathe das Auto-fahren bei, führt sie ein in die Kunst, Rockmusik zu verstehen, zu lieben und zu leben.  Sie ist in Agathes Augen ein "echter Hurensohn" - ein größeres Kompliment kann es nicht geben. Debbie repräsentiert den angelsächsischen Lebensstil, zu dem es Agathe immer schon hingezogen hatte.

Die Musikfrage war eine der wenigen gewesen, in der sie und Réjean nicht einer Meinung waren. Er hörte die schlaffen, kraftlosen französischen Lieder, denen Agathe gar nichts abgewinnen konnte.

 

Die Kapitel "Davor" widmen sich vor allem Réjean. 

Er fühlte trotz aller Zufriedenheit eine gewisse Leere in sich. Sein bester Freund, von dem Agathe nicht einmal weiß, dass es ihn gibt, rät ihm, sich ein Hobby zu suchen.

Dieser Freund, sein Autohändler, der selbst einen Ford fährt - ungeheuerlich, wenn man Chevys verkauft - namens Martin Bureau, ist ein einsamer Mann, er freut sich über Réjeans Vertrauen und möchte ihm gerne einen Gefallen tun.

 

Mit diesem neuen Hobby Réjeans beginnt das, was zu dem späteren Zufall führt, der das Leben mehrerer Menschen komplett verändert.

Zufall war auch, dass ein Typ von der Army neben dem Silverado, in dem Agathe auf Réjean wartete, parkte. 

Und laut Rockmusik hörte, und dazu sang, und sie dabei anschaute oder eher ansang. Ihr gefiel das eigentlich, aber sie wusste, dass es das nicht sollte.

 

Die Geschichte führt tief in den Wald, tief in die Seelen der Protagonisten. Michelle Winters schreibt mit viel Witz und Tempo, mit Empathie aber ohne Wehmut.  

Ihre Figuren sind superschräg aber glaubwürdig und sie liebt es, ihre LeserInnen zu überraschen.

Der Roman entwickelt sich mit unvorhergesehenen Wendungen auf ein dramatisches Ende zu, das Agathe (vermutlich) in ein anderes Leben schleudern wird.

Auch weil - oder gerade weil - der verlorene Riese plötzlich wieder auftaucht. Aber als ein anderer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michelle Winters: Ich bin ein Laster

Übersetzt von Barbara Schaden

Wagenbach, 2020, 144 Seiten

(Originalausgabe 2016)