Willi Wottreng - Ein Irokese am Genfersee

Eine wahre Geschichte

Der im Jahr 1948 geborene Journalist, Aktivist und Buchautor Willi Wottreng, bekannt für seine pointierten Nachrufe, die meister-hafte Darstellungen brüchiger Biografien sind, bewegt sich schriftstellerisch gerne am Rand der Gesellschaft. Mit dem Chief Deskaheh begibt er sich ins Land der Six Nations - und nach Genf, der Stadt des Völkerbundes.

 

Wottreng legt die Geschichte in die Hände der Erzählerin

Ursula Haldimann. Sie findet zufällig ein Foto, auf dem ein Indianer in vollem Schmuck an einem Tisch sitzend zu sehen ist, umringt von drei Frauen und zwei Männern, die etwas angespannt leicht an der Kamera vorbei in eine Richtung schauen.  Der Ort ist erkennbar eine gutbürgerliche Wohnstube. Haldimann erkundigt sich bei einem Antiquitätenhändler, der zufällig der Enkel jenes Mannes

auf dem Foto ist, nach dem Indianer (sie mag ihn nicht politisch korrekt "dem Indigenen" nennen).

 

Er kann Haldimann aufklären: 

"Der Mann heißt Des-ka-heh. Irokesen-Chief. Auf Besuch

bei meinem Großvater" in Zürich. Außerdem sagt er:

"Dass die Sachen in Ihre Hände gekommen sind, ist wohl Schicksal. Sie landen immer dort, wo sie hinmüssen."

 

Ursula Haldimann, Jahrgang 1947, ist aufgewühlt:

"Ich war Winnetou" - so der erste Satz des Buches.

Dieses Gefühl blieb, die Indianergeschichten beflügelten ihren Freiheitsdrang und ihr Gerechtigkeitsgefühl.

"Ich war Winnetou, der Stadtindianer. Schnell sein.

Wild sein. Frei sein. Unüberholbar und damit unbesiegbar. Wir waren durch den Wind, zugegeben. Doch meine Haare blieben hellblond, wurden nicht schwarz gefärbt. Ich war eine Indigene von hier." Auf ihrem Motorrad lebte sie diesen Freiheitsdrang aus.

 

Nun, in bürgerlicher Ordnung lebend, Staatsanwältin, zwei Kinder, geschieden, findet sie dieses Foto und sucht die Geschichte dahinter.

 

Sie handelt von dem Holzfäller und Kleinbauern Levi General, so sein bürgerlicher Name, aus dem Volk der Cayuga. Zusammen mit fünf anderen Völkern bildet es die "Große Friedensgemeinschaft. Den Staatsgebilden der Weißen stellten sie die Konföderation der Six Nations entgegen."

 

Die Six Nations fühlen sich nicht als Kanadier. Die Indianer erhielten das Land am Grand River von Großbritannien als Anerkennung für die Verdienste in den Kriegen der Briten gegen amerikanische Sezessionisten. Die Indianer leben auf eigenem Grund, sie leben nicht in einem Reservat.

Sie sehen ihr Land als eigenständigen Staat zwischen Kanada und den USA. Kanada hingegen betrachtet das Indianerland als ein von Wilden bewohntes Gebiet, das zivilisiert und demokratisiert werden muss. Die Indianerbehörde greift massiv in das Leben sämtlicher Völker und Stämme ein. 

Diese sind sich untereinander alles andere als einig. Es gibt viele verschiedene Strömungen, wie mit der Regierung zu verfahren sei. Schließlich setzt sich Chief Deskaheh mit seiner Ansicht durch, man müsse nach England reisen, um vom König die Übergabe des Landes an die Indianer bestätigt zu bekommen.

 

Deskaheh erreicht nichts. Also unternimmt er auf Anraten seines Anwalts Decker zusammen mit diesem eine Reise nach Genf. Deskaheh wird mehr als ein Jahr in der Schweiz verbringen. Er wird zum Politiker, zum Redner, zum gern gesehenen Gast auf  Empfängen - sein Ziel, "die Aufnahme der ganzen Gemeinschaft der sechs Irokesenstämme in den Völkerbund" als eigenständige Nation, gelingt ihm nicht. Zwar begeistert der charismatische Redner seine Zuhörer und interessiert sie für die Sache der "Rothäute", aber bis zum Völkerbund dringt er nicht vor.

 

Zu sehr sind die großen Staaten mit sich selbst beschäftigt, sprich: mit dem Ausbalancieren der Macht zwischen diesen.

Zwar schafft Deskaheh es bis zum Schweizer Bundespräsi-denten, doch die Reaktion ist mehr als arrogant.

In dieser Schlüsselszene erläutert Deskaheh die Beschlussfindung der Stammesvertreter in seiner Heimat.

Zusammenfassend nennt der Sekretär des Präsidenten dieses Verfahren: "zwei Kammern und eine Judikative".

"Und wie wird entschieden, wenn es zu keiner Einigung kommt?, fragt der Präsident - Dann entscheidet der Rat der Matronen", so Deskaheh. "Wir sind die älteste lebende Demokratie." Das kann der Schweizer nicht auf sich sitzen lassen: "Die älteste Demokratie mit Ausnahme der Schweiz, die im 13. Jahrhundert von einem Mann mit Pfeil und Bogen gegründet wurde."

 

Dass friedliebende alte Frauen das letzte Wort haben passt nicht in die Köpfe moderner Männer. Dass alle Ämter des Völkerbundes Frauen wie Männern zugänglich sind, jedenfalls theoretisch, beeindruckt Deskaheh nicht.

"Bei uns sind die politischen Aufgaben auf beide Geschlechter verteilt".

 

Deskaheh erwartet vom Völkerbund Gerechtigkeit. 

Doch dieser erklärt sich für nicht zuständig, da er den Konflikt für einen innerstaatlichen hält - Kanada ist zuständig für seine Minderheiten. Kanada löst das Problem mit Waffen und Landwegnahme. Als Bodenschätze gefunden werden, wird es für die Six Nations vollständig aussichtslos, zu ihrem Recht zu kommen.

 

Wottreng erzählt via Ursula Waldimann die Geschichte der Europareise Deskahehs sehr ausführlich, mit sämtlichen Ausflügen, Besuchen, Vortragsreisen - im Kern geht es um das Auslöschen einer Zivilisation, das ein Mann, auch wenn er Abgesandter und Sprecher einer Nation ist, nicht verhindern kann. Auch dann nicht, wenn er sich an die Vereinigung von Staaten wendig, die sich gegründet hat,

um Frieden in die Welt zu bringen.

 

Und er geht an sehr vielen Stellen des Buches auf die ganz unterschiedliche Auslegung des Begriffes "Demokratie" ein. 

Laut Definition bedeutet das Wort "Herrschaft des Volkes" - doch wie kann diese gelebt werden? Der Chief der Six Nations hat davon eine andere Vorstellung als der Präsident der Schweiz, Kanadas oder vieler anderer Länder.

Der sogenannte Westen bemüht sich darum, seine Sicht der Wahrheit durchzusetzen, bis heute.

 

 

Deskaheh ging es nicht um einen Schutzstatus für Minder-heiten. Als eine solche sah er die Six Nations nicht.

Darauf wurden die Indianer im Lauf der Jahre reduziert.

Es kam immer wieder zu Aufständen, vermeintlichen Zugeständnissen etc, die Frage: "Warum gewinnen in den Filmen eigentlich nie die Indianer?" mit der das Buch ausklingt, lässt sich aus der Realität beantworten.

 

1977 fand die erste Indigenenkonferenz der UNO statt, mehr als ein halbes Jahrhundert hatte es gedauert, bis ein Irokese "vor der Weltgemeinschaft auftreten konnte."

Im September 1923 war Deskaheh nach Genf gereist, im Januar 1925 verließ er Europa wieder. Da er als Rädelsführer auf einer Liste der Kanadier stand, konnte er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren. Nach einer Lungenkrankheit und allgemeiner Schwächung verstarb er im Juni desselben Jahres im amerikanischen Exil - er durfte weder seine Familie noch einmal sehen, noch einen Medizinmann.

 

Um seinen Tod ranken sich Gerüchte, so der Züricher Antiquar: Deskaheh könnte eines unnatürlichen Todes gestorben sein. Haldimann geht auch dieser Spur noch nach...

 

 

Willi Wottreng holt mit seiner Darstellung der historischen Figur Deskaheh eine Geschichte ans Licht, die bislang wahrscheinlich nur Experten bekannt war.

Höchste Zeit dafür.

Er betont: "Alle Figuren in der Geschichte von Chief Deskaheh sind historisch belegt und tragen ihre Echtnamen. Die Daten sind historisch verbürgt. Die Vorgänge um den Völkerbund haben stattgefunden."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Willi Wottreng:

Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte

Bilgerverlag, 2018, 198 Seiten