Andrea Wulf - Alexander von Humboldt

und die Erfindung der Natur

Alexander von Humboldt (1769-1859) war zu Lebzeiten der Wissenschaftler schlechthin. An seinem hundertsten Geburtstag fanden weltweit Gedenk-feiern statt, an denen tausende Menschen teilnahmen. Im Lauf der Zeit geriet er mehr und mehr in Vergessen-heit (jedenfalls dem breiten Publikum), vor allem im angelsächsischen Raum.

 

Wulfs Biographie, die gleichzeitig eine Geschichte des Wissens und der Wissenschaft ist, ist der Versuch, diesen großen Mann wieder ins Bewusstsein zu rücken - das dürfte ihr gelungen sein. Die Autorin hat unendlich viele Quellen studiert, alle nur erdenklich vorliegenden Informationen einbezogen und aus dieser Masse an Einzelteilen ein Ganzes erschaffen, das ein klares und umfassendes Bild des ungewöhnlichen Mannes ergibt.

 

Damit folgt sie ganz genau seiner Methode: der systemati-schen Erfassung von so vielen einzelnen Aspekten wie nur möglich. Darauf folgt die eigentliche Arbeit, die nicht nur wissenschaftlichen Sachverstand, sondern auch Phantasie und Einfühlungsvermögen erfordert: aus diesen Mosaik-steinen ein komplexes Bild zu erschaffen, das das Geflecht deutlich macht.

 

Goethe nennt diese Methode, das "Besondere im Allge-meinen" und das "Allgemeine im Besonderen" darstellen.

 

Von Goethe war Humboldt nicht unwesentlich beeinflusst. Humboldt, der schon als Kind lieber Käfer sammelte, anstatt am Privatunterricht, den er zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Wilhelm erhielt, teilzunehmen, folgte dessen Gedanken der Metamorphose.

Diese Idee basiert auf der Annahme, dass es eine Art Grundform gibt, aus der heraus sich die einzelnen Abwand-lungen in verschiedenen Ausprägungen entwickeln. 

Daran sind Klima, Standort, Nährstoffe usw. beteiligt.

Im Klartext bedeutet dies: nicht Gott hat die Natur mit all ihren einzelnen Pflanzen, Tieren und Menschen statisch und unveränderlich erschaffen, sondern in der Natur wirken Kräfte, die die Veränderungen in Gang setzen. Und, ganz wichtig: jedes einzelne Lebewesen ist verbunden mit und abhängig von seiner Umgebung.

 

Humboldt nimmt diese Ideen auf, sie führen ihn von einer "rein empirischen Forschung zu seiner eigenen Deutung der Natur".

Dieser Schritt ist ein ganz bedeutender für die Betrachtung der Natur überhaupt. Humboldt verlässt mit dieser Heran-gehensweise auch die Pfade, die sich in der Wissenschaft zwar gerade erst herausbilden, aber schon sehr bestimmend sind: er arbeitet interdisziplinär. Er ist Botaniker, Geologe, Klimaforscher, Geograph, Kartograph und Physiker, daneben Ethnologe und Kulturwissenschaftler  - er ist in der Lage ein großes Gefüge zu erkennen und darzustellen.

 

Seine legendäre Reise nach Südamerika, der sich auch noch eine Reise durch Nordamerika anschloss, von Juni 1799 bis Mitte 1804, bringt so viele neue Erkenntnisse, dass Humboldt jahrzehntelang mit deren Aufarbeitung beschäftigt ist.

 

Auf seiner abenteuerlichen Forschungsreise, auf der er nebenbei zu einem der besten Bergsteiger wird, scheut er kein Risiko, mehr als einmal bringt er sich bei Messungen in schwindelnder Höhe bei Eiseskälte in Lebensgefahr.

Aber dieser Mann ist so wissbegierig, nichts kann ihn davon abhalten, neue Erkenntnisse zu gewinnen.

 

Die Ergebnisse dieser Reise veranschaulicht Humboldt in seinem berühmten "Naturgemälde". Es "zeigt den Chimborazo im Querschnitt und die Natur als ein Netz,

in dem alles mit allem verbunden ist."

"Das "Naturgemälde" macht zum ersten Mal deutlich, dass die Natur global ist und sich Klimazonen auf allen Kontinenten entsprechen. Humboldt erkannte die "Einheit

in der Vielheit. Statt Pflanzen in ihre taxonomischen Kategorien einzuordnen, betrachtete er die Vegetation aus dem Blickwinkel von Klima und Standort - ein vollkommen neuer Ansatz, der noch heute unser Verhältnis von Ökosystemen prägt."

 

Andrea Wulf betont in ihrem Buch immer wieder genau diesen Aspekt: Humboldt prägte die Ansicht, die wir auf die Natur haben, bis heute. Er führte sie weg von der rein auf den Menschen konzentrierten Sicht (die Natur ist zum Wohle des Menschen da, er kann mit ihr machen, was er möchte) und er führte sie weg von einer gottgegebenen Sicht, nach der alles einen unverrückbaren Platz hat, isoliert nebeneinander steht und kein dynamischer Prozess ist. 

 

Humboldt ist damit der erste, der erkannte, welche Folgen jeder Eingriff des Menschen in die Natur hat. Den Begriff der "Ökologie" entwickelte später der Naturforscher John Muir, der in seinen Methoden und Denkansätzen auf Humboldt basierte, wie auch Charles Darwin auf Humboldt basierte - Humboldt ist ein so weitreichender Denker, er kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.

 

Und nicht nur auf dem Gebiet der Natur-Wissenschaft: 

er war ein entschiedener Gegner der Sklaverei, die er in Süd-und in Nordamerika erlebte. 

Sein Grundgedanke der Gleichheit in der Vielheit übertrug er auch auf die menschliche Gesellschaft.

 

Humboldt war fest davon überzeugt, dass Sklaverei wider-natürlich war. "Was aber gegen die Natur ist, ist unrecht, schlecht und ohne Bestand." Im Gegensatz zu Jefferson, der glaubte, dass Schwarze "Weißen in körperlicher wie geistiger Hinsicht unterlegen sind", beharrte Humboldt darauf, dass es keine überlegenen oder unterlegenen Ethnien gebe. Unabhängig von Nationalität, Hautfarbe oder Religion hätten alle menschen denselben Ursprung. Wie die Pflanzen-familien, die sich unterschiedlich an ihre geografischen und klimatischen Verhältnisse anpassten, aber trotzdem die Merkmale eines "gemeinsamen Typus" zeigten, so gehörten auch alle Mitglieder des Menschengeschlechts zu einer einzigen Familie. Alle Menschen seien gleich, und keine Gruppe sei einer anderen überlegen, weil alle "gleichzeitig zur Freiheit bestimmt" seien.

Die Natur war Humboldts Lehrerin. Und die bedeutendste Lektion der Natur war die Freiheit."

 

Das sind revolutionäre Ideen für einen Mann, der in den Diensten des preußischen Königs stand. Doch ohne dieses Salär hätte er überhaupt nicht überleben können.

Humboldt hat sein ganzes Vermögen in seine Forschungen gesteckt. Darüber hinaus unterstützte er junge Forscher nach Kräften - er besaß nicht einmal eine vollständige Ausgabe seiner Bücher, die konnte er sich nicht leisten.

 

Sein letztes Buch, den fünften Band seines Riesenwerkes "Kosmos", schickte er wenige Tage vor seinem Tod mit neunundachtzig Jahren an seinen Verleger.

 

Eine lange geplante und immer wieder verschobene Reise nach Indien und in den Himalaja konnte Humboldt nicht machen - die Weltpolitik stand dagegen. Aber nach Russland hatte er als Sechzigjähriger noch reisen können, seine Reisegefährten waren erstaunt über die Kräfte des Mannes.

1829 war er aufgebrochen, streng bewacht von Männern des Zaren, doch immer wieder entkam er ihnen und konnte seine eigenen Wege gehen. 

 

"Humboldt suchte nach den "Beziehungen, welche alle Phänomene und alle Kräfte der Natur verketten".

Russland war das letzte Kapitel in seinem  Werk über sein Naturverständnis - er überprüfte und verifizierte alle Daten, die er in den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragen hatte, und verknüpfte sie miteinander. Dabei ging es ihm in erster Linie um einen Vergleich und nicht um Entdeckung. Die Ergebnisse der russischen Expedition veröffentlichte er in zwei Büchern und berichtete darin auch über die Zerstörung der Wälder und die langfristigen Veränderungen der Umwelt durch Menschenhand. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die Menschheit das Klima hauptsächlich auf drei Arten beeinträchtige: Abholzung, rücksichtslose Bewässerung und, vielleicht besonders prophetisch, die "Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie". Noch nie hatte jemand die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf diese Weise betrachtet."

 

 

Andrea Wulf untersucht die Quellen, aus denen Humboldt sich speist. Sie zeichnet seine Entwicklung als Wissen-schaftler und als Mensch auf, sie stellt seine Erkenntnisse vor, und berichtet von den Einflüssen, die er auf nach-folgende Wissenschaftler(generationen) und auf die Weltsicht jedes Einzelnen hat.

Sie zeichnet das Bild eines einzigartigen und faszinierenden Mannes, der nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Mit ihrem Buch, das so viele Facetten in sich vereinigt, gelingt ihr ein ganz großer Wurf, zumal sie sich nicht in all den Einzelheiten verliert, sondern stets das große Ganze im Auge hat und sehr anschaulich und gut erzählen kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur

Übersetzt von Hainer Kober

C. Bertelsmann, 2016, 560 Seiten

(Originalausgabe 2015)