Christine Wunnicke - Katie

Der Physiker und Chemiker William Crookes (1832-1919), Mitglied der Royal Society und Herausgeber der Chemical News, Entdecker verschiedener Elemente sowie der Kathodenstrahlen und damit ein Wissenschaftler, der Grundlagen für weitere Forschungen schuf, war auch Parapsychologe und sehr vom Spiritismus angetan.

Wir befinden uns im 19. Jahrhundert und die Naturwissen-schaften steckten in den Kinderschuhen. Sinnliches und Übersinnliches vermischen sich noch, die Methoden sind fraglich und die Grenzen fließend.

 

William Crookes erhält den Auftrag, ein Gutachten zu erstellen - und zwar über Florence Cook (1856-1904).

Sie ist ein junges Mädchen, das zum gefeierten Medium wird. Sie ist eines der wenigen Medien, bei denen ein Geist sich materialisiert. Die Aufregung ist unglaublich, Florence hat für eine gewisse Zeit den Rang eines Popstars, ihre Vorstellungen gleichen Happenings, die Zuschauer rasen.

 

Doch der Reihe nach: der Leser lernt zuerst Crookes kennen, er ist zu Besuch bei dem berühmten Faraday. Dieser ist bereits nicht mehr ansprechbar, das Gespräch also ein Monolog, doch Faraday geistert durch die Gedanken Crookes und damit durch das Buch. Ein anderer wissenschaftlicher Geist ist James Clerk Maxwell, einer der wichtigsten Mathematiker des 19. Jahrhunderts. Auch auf ihn bezieht sich Crookes immer wieder.

 

Mit den großen Namen und ihren nachprüfbaren und bis heute gültigen Leistungen und Erkenntnissen kreiert die Autorin des Romans ein Atmosphäre, die sagt: hier geht es um die Wahrheit. Hier ist nicht die blühende Phantasie eines Dichters am Werk.

 

Das ist eine phantastische Art, um den Leser in eine Geschichte hineinzuziehen, wie sie abstruser nicht sein könnte - aus heutiger Sicht.

 

Florence ist zu Beginn des Romans dreizehn. Sie ist kränklich, übt sich in allerlei brotlosen Künsten, ihr größter Wunsch ist es, berühmt zu werden. Doch womit?

Wie gut, dass die Mutter in ihrem Gebetskreis mit dem Sitzen in Berührung kommt, als gut christliche Tradition, um mit den Verstorbenen in Verbindung zu bleiben.

Egal ob Gelehrter, Pfarrer, Mann oder Frau, Jung und Alt, alle scheinen in dieser zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieser Tätigkeit zu frönen. Florence erkennt ihre Gabe und Chance.

 

"Mit ihren sechzehn Jahren war seine ältere Tochter das berühmteste materialisierende Medium von London-Ost. Materialisierend bedeutete, hatte Mr. Cook gelernt, dass bei ihren Darbietungen etwas umging."

 

Bei diesen Meetings sitzt Florence im Schrank. Sie lässt sich fesseln, die Zöpfe an Wandhaken binden, "fester, fester" haucht sie mit letztem Atem. Draußen stimmt die Mutter eine Hymne an, die Besucher singen mit und warten.

 

Im Dezember 1873 "trat Miss Cooks Materialisierung zum ersten Mal aus dem Schrank."

Katie. Geboren in Sünde im Jahr 1653, die Mutter stirbt im Kindbett. Ein Nachbarin kümmert sich um sie, Katie wird schön und stark, manchmal scheint sie ein Junge zu sein. 

Später wird sie zur See fahren, ihren Vater finden und feststellen, dass sie eine Piratentochter ist. 

Das passt perfekt: unabhängiger Geist, lockere Moral.

Androgyn.

 

Katies Leben wird geschildert, es gab sie, sie starb, nicht ganz. Nun ist sie ein Teil Florence Cook.

Wie das alles funktioniert, das untersucht Mr. Crookes.

Florence wird unglaublichen Untersuchungen unterzogen, dazu zieht sie in Crookes Haushalt. Mrs. Crookes mag das Mädchen gerne, wundert sich dann aber auch über die Dinge, die neuerdings im Haus vor sich gehen.

Pratt, der Assistent Crookes, ein junger Mann profitiert sehr von der Anwesenheit Katies, sie kann sehr irdisch-sinnlich sein, wenn sie dies möchte.

 

Kurz gesagt, es geht drunter und drüber, ein letztlicher Beweis wird nicht erbracht, auch wenn Florence wahrscheinlich keine Betrügerin ist.

"Der Prüfkreis war nicht unterbrochen und wir sahen die Erscheinung mit eigenen Augen", so Huggins, "der beste astronomische Spektroskopist von England."

Crookes verliert dennoch seine Ehre als Forscher, gewinnt sie aber zurück. Für Florence ist das mit dem Zurückgewinnen naturgemäß schwieriger, sie ist eine junge Frau.

 

In ihrem vorausgegangenen Roman "Der Fuchs und Dr. Shimamura" schreibt Wunnicke über den Beginn der Psychoanalyse und das Phänomen der weiblichen Hysterie, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert gesehen wurde.

Und dass dieses Phänomen auch die Vertreter des starken Geschlechts befallen kann.

Auch hier vermischt sie Tatsachen und Historie mit viel Phantasie.

 

Christine Wunnicke ist mit "Katie" ein weiterer wunderbarer Roman gelungen, der mit den fließenden Grenzen der Realität spielt. Dabei geht sie ganz korrekt mit historischen Tatsachen um und macht deutlich, wie wenig objektiv die sogenannten objektiven Wissenschaften sind - aus der Distanz gesehen.

Das, was gesehen wird oder werden will, ist nicht unbedingt das, was da ist.

Besonders wenn die Wissenschaft sich um die Sexualität der Frau bemüht, sind die Ergebnisse oft fragwürdig.

 

Florence ist klar, dass Katie in ihr drin ist. 

"Sie rollte sich zusammen in Florence´ Bauch oder Becken und schnaufte dort oder schnarchte. Vielleicht war es auch Florence´ Darm. Miss Cook aß so wenig und schluckte so viel Chlorodyne, dass sie nie mehr zum Stuhl gehen musste. ... Doch Katie Morgan interessierte sich nicht für Florence Cooks Verdauung. Katie interessierte sich nur für die Liebe."

 

Und das ist dann vielleicht auch des Rätsels Lösung, die Sehnsucht in Florence´ Leib, die heraus will...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Christine Wunnicke: Katie

Berenberg Verlag, 2017, 176 Seiten