Francis Wyndham - Der andere Garten

Der andere Garten "war eine formale Anlage von künstlich geometrischer Form, die Mitte der dreißiger Jahre schon nicht mehr modern war und später vollends außer Mode kam."

Dort ist der Vater "in Sicherheit und außer Hörweite" der Mutter.

Die Beschreibung des Gartens in Anlage und Funktion eröffnet den Roman und er beschließt ihn in seiner Eigenschaft als Zufluchtstätte für den Ich-Erzähler.

 

Dieser ist zu Beginn zwölf Jahre alt, der Schauplatz ist England kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Dieser Erzähler berichtet in einem unaufdringlichen, leichten und von Auslassungen geprägten Plauderton. Er beschreibt die Landschaft, die Nachbarschaft und fast nebenbei spricht er auch von den Ereignissen der Zeit.

 

Die Hauptperson des Buches ist Kay Demarest. Sie ist Anfang dreißig und lebt mit ihren Eltern ganz in der Nähe.

Die Eltern sind geschieden, leben aber aus finanziellen Gründen weiterhin wie ein Paar zusammen. Kay hat noch einen jüngeren Bruder, Sandy, dieser versucht sich als Schauspieler. Er sieht blendend aus und die Eltern lieben und verehren ihn. Kay wird widerwillig geduldet.

Die nicht mehr ganz junge Frau mit der strubbeligen kupferroten Mähne (allein das ist ein untrügliches Zeichen für Außenseitertum) ist schüchtern, dünn, Kettenraucherin. Aber sie ist auch unterhaltsam, kann lustig und dem Leben zugewandt sein. Sie ist unkonventionell, hat auffallend viele Freunde aus der Unterschicht, so einen Automechaniker oder einen Postbediensteten.

Sie hat Freundinnen und hatte Liebhaber - sie kann also nicht so hässlich, langweilig und unbedeutend sein, wie ihre Eltern (und sie selbst) glauben. 

Diese rauben ihr fast den letzten Rest von Selbstbewusstsein, warum, wird gar nicht klar. Vielleicht aus purer Bosheit, Dummheit und Borniertheit und Lust, jemanden zu quälen.

 

Kay hat nicht genügend Geld, um ein selbständiges Leben zu führen. Ihr größtes Vergnügen ist, sich in die Sonne zu legen und sich dunkelbraun bräunen zu lassen. 

Weil das die Mutter nicht duldet ("Mummy geht es auf die Nerven, wenn sie mich den ganzen Tag halbnackt rumliegen sieht."), hat Kay sich ein Plätzchen im Garten des Erzählers erbeten und erhalten.

Freilich nicht im anderen Garten, denn da würde sie den Herrn des Hauses mit ihrem "Mangel an konventioneller feiner Lebensart" stören. Kay passt nicht in die Welt aus gestutzten Eiben, komplizierten Blumenmustern und verschnörkelten Bänken.

 

Da sie "keinen Fleck ihr Eigen nannte" kann sie sich nicht einmal vernünftig mit ihrem Liebhaber treffen, er sagt sich bald von ihr los. Nach dieser Zurückweisung verzichtet sie vollends darauf, sich hübsch herzurichten - es ist ein bisschen so, als würde sie sich selbst mit unschönem Aussehen bestrafen.

Als ihr ein Hund zuläuft, muss sie ihn bei wechselnden Bekannten unterbringen, denn sie kann ihn nicht mit nach Hause nehmen, das dulden ihre Eltern nicht.

Am Silvesterabend, den Kay zu Hause verbringt, erscheint der Hund plötzlich am Fenster. In einem heftigen Wutanfall greift ihr Vater zur Flinte und schießt blindlings hinaus, wo auch Kay mittlerweile ist. Er hätte nicht nur den Hund treffen können. Das ist ihm egal.

 

Dieses Ereignis bringt Kay dazu, ihr Elternhaus zu verlassen. Sie zieht nach London zu einer Freundin und verbringt einen Großteil des Tages damit, Futter für den Hund zu besorgen.

 

Denn mittlerweile herrscht Krieg. Kay hat einen langen Krankenhausaufenthalt hinter sich, sie leidet an TB.

Sie hat kein Einkommen. Ihr Leben ist schwierig, trist und sie ist oft allein, freut sich deshalb sehr über die Besuche des Erzählers, der sie nach wie vor bewundert. 

Der Autor beschreibt die Lebensumstände Kays nicht in drastischen Szenen, direkten Worten. Er überlässt es dem Erzähler, der inzwischen neunzehn ist und ebenfalls an TB leidet, das mitzuteilen, was der Leser wissen muss, um sich Kays Situation - und nicht nur ihre - selbst auszumalen.

 

Auch der Erzähler verbringt viele Wochen und Monate damit, seine Lungenkrankheit auszuheilen. Sie hat ihm jedoch vermutlich das Leben gerettet, denn sie brachte ihm die Entlassung aus der Armee.

"Und in diesem Dasein war Kay (deren Lage in mancher Hinsicht so ganz anders war als die meine und ihr doch im Kern gleich) meine Gefährtin, meine Verbündete, meine geistige Zellengenossin."

 

Am Ende, nach Kays Tod, als der Erzähler Zuflucht sucht im anderen Garten, ist wenig übrig geblieben von diesem.

Er ist verwildert, aus Blumenrabatten wurden Gemüsebeete, aus gestutzten Büschen unförmige Gewächse.Vogeltränken und andere kleine Kunstgegenstände waren an einen Antiquitätenhändler verkauft worden.

 

Mit anderen Worten: es ist nach dem Krieg nichts mehr übrig von der Welt zuvor. Schon zur Zeit seiner Entstehung war der Garten nicht mehr zeitgemäß, nun ist er zerstört, die formale Welt, ihre Anlage, ihre Einteilungen und Bestimmungen galten nicht mehr.

 

Der Erzähler neigt dazu, Kays Geschichte melodramatisch zu sehen (so empfindet er es selbst): 

"Ihre Eltern hatten sie in jeder Hinsicht zugrunde gerichtet, und Sandy hatte moralisch an diesem metaphorischen Mord mitgewirkt, bis zur Handlungsunfähigkeit eingeschüchtert von dem rätselhaften Terror, den diese dumme alte Kuh Sybil Demarest offenbar über ihre Familie ausübte...Aber so betrachtet war meine Mitschuld an dem angeblichen Verbrechen mindestens ebenso groß wie seine, denn ich hatte während seiner Abwesenheit Tag für Tag jede Phase dieser Entwicklung miterlebt und war dennoch unfähig gewesen einzuschreiten."

Ein Diktator, ein paar Gehilfen, Mitläufer, schweigende Zuschauer, ein Opfer.

 

Der Untergang eines Landes, einer Lebensform und eines Menschen sind miteinander verquickt in diesem Roman.

Da er sich so leicht und flüssig liest, fällt das erst richtig ins Auge, wenn man nach der Lektüre Revue passieren lässt und noch einmal über den Titel nachdenkt.

Dieser ist eine ganz direkte Übersetzung aus dem Englischen, "The Other Garden". Inhaltlich knüpft er das Ende an den Anfang. Aus "nicht mehr modern" wurde "wenig war übrig von meines Vaters wohlgeordneter Schöpfung."

 

Das trifft nicht nur auf den Garten zu, der im ganzen Roman nur in diesen beiden Szenen erwähnt wird, sondern auch auf das Leben der gehobenen englischen Landbevölkerung und in erschreckender Weise auf Kay. Sie passt nicht in die Konventionen, nicht in die Familie, nicht in die Arbeitswelt, sie schafft es nicht einmal, Bücher pünktlich zurück zu geben. Sie passte vor dem Krieg nicht ins gesellschaftliche Gefüge, selbst im "anderen Garten" kann sie sich nicht niederlassen. Ob die Neuordnung nach dem Krieg ihr einen Platz geboten hätte weiß man nicht, denn Kay stirbt kurz nach Kriegsende.

 

Dieser Roman von großer Tiefe, für den der Autor mit dem "Whitbread First Novel Award"  ausgezeichnet wurde,

pflegt das britische Understatement ganz extrem und lässt der Phantasie des Lesers viel Raum.

 

 

 

 

 

 

Francis Wyndham: Der andere Garten

Übersetzt von Andrea Ott

Dörlemann Verlag, 2010, 190 Seiten

(Originalausgabe 1987)