Lutz Rathenow -
Trotzig lächeln und das Weltall streicheln -
Mein Leben in Geschichten

Anlässlich des 70. Geburtstages des Dichters, Prosaautors und Journalisten erschien 2022 diese wunderbare Sammlung von Texten.
Sie vermittelt einen guten Eindruck von der Bandbreite und Vielfalt, von der Haltung und Denkweise, vom Stil und der Gewitztheit des Freigeists Lutz Rathenow.
Er wurde 1952 in Jena geboren, studierte dort nach dem Wehrdienst Germanistik und Geschichte. Er wollte Lehrer werden, doch drei Monate vor dem Abschluss seines Studiums wurde er 1977 exmatrikuliert. Diesem Rauswurf vorangegangen waren die Gründung des oppositionellen "Arbeitskreises für Literatur und Lyrik" im Jahr 1973, Kontakte zu regierungskritischen Schriftstellern - und freche Texte. Der Geheimdienst war längst aufmerksam geworden auf den umtriebigen und unbequemen Studenten, der sich bereits einen Namen als Autor gemacht hatte, die erste Verhaftung Ende 1976 keine Überraschung.
Der Exmatrikulation folgte ein Umzug nach Berlin, wo Rathenow am Theater und als freier Schriftsteller arbeitete.
Als er nach Erscheinen des Buches "Mit den Schlimmsten wurde schon gerechnet" 1980 in der Bundesrepublik erneut verhaftet wurde, war er schon so bekannt, dass sich namhafte Schriftsteller in Ost und West für seine Freilassung einsetzten. Nach zehn Tagen endete die Haft, die Beschattung und Überwachung in jeder möglichen Form durch die Staatssicherheit endete erst mit dem Zusammenbruch der DDR. Ausreisen wollte er trotzdem nie, er blieb in Berlin, unterstütze die oppositionelle Bewegung, beobachtete und schrieb.
Von 2011-21 war Lutz Rathenow Landesbeauftragter für Stasi-Unterlagen in Sachsen.
Mit "Lauter Anfänge" ist das erste Kapitel des `Lebens in Geschichten´ überschrieben.
Gleich in der ersten Geschichte lernt man einen Jungen von sieben, acht Jahren kennen, der seine Schwester mit einem sprechenden Hampelmann unterhält, erschreckt, erpresst. Er traktiert die Schwester in den Augen der Mutter zu sehr, sie verbrennt die Holzpuppe eines Tages. Dafür hasst er die Mutter, schwört, nie wieder mit ihr zu sprechen. Das hat er am Abend bereits wieder vergessen - er ist mit anderen Dingen beschäftigt und erfindet einfach einen Mann, der in seinem Bauch versteckt ist, das Spiel geht weiter.
Dieses Nicht-Hassen wird er weiter kultivieren. Keiner der in diesem Buch versammelten Texte ist von Hass oder Rache geprägt. Gut, eine Tötungsfantasie gibt es, aber die gehört ins Reich der Märchen, die Lutz Rathenow ebenfalls sehr gerne schrieb. Wunderbar ist seine eigenwillige Umdeutung des "Wolfes und die sieben Geißlein", zu finden in dem Kapitel "Beschleunigen". Hier fürchten die Geißlein die Mutter, die kein Blatt vor den Mund und manchmal auch Reißaus vor den anstrengenden Kindern nimmt, mehr als den bösen Wolf. Da kommt es gerade recht, dass er vor der Tür steht, nachdem die Kleinen großen Unfug veranstaltet haben und die Rückkehr der Mutter fürchten:
"Doch die Geißlein bestehen darauf, erst einmal gefressen zu werden. `Aufmampfen! Runterschlucken!´ Sie werden immer lauter. Der Wolf weigert sich und will gehen. Das lassen sich die sieben nicht bieten. Wütend stürzen sie sich auf ihn und haben das Tier im Nu erschlagen. Erschrocken laufen die Geißlein fort. Die Welt ist groß, Märchen gibt es genug, in denen sie ein neues Zuhause finden können."
Dieses kleine Märchen bietet eine Fülle an Interpretationen, auch dies ein Merkmal der Texte Rathenows. Dies gilt für die Science-fiction-Stories genauso wie für multiperspektivische Liebesgeschichten, Geschichten innerhalb von Geschichten oder einer Erinnerung an eine Reise.
Lutz Rathenow hat viel Fantasie, doch sein Denken ist in der Realität verankert. Ob "Die weite weite Welt" betrachtet oder das Phänomen "Go West" beleuchtet wird, die Wirklichkeit um ihn herum ist Ausgangspunkt der Geschichten.
So sind die Veränderungen am Prenzlauer Berg oder Über-legungen rund um den Alexanderplatz ein hochinteressantes Nachdenken über Individuum und Gesellschaft, eine Satire auf überbordende Bürokratie ein Ausflug nach Absurdistan, der übermächtige Sog moderner Kommunikationsmöglich-keiten ein Abstecher in eine andere Art von Wahnsinn.
Der Blick Rathenows ist und bleibt ein kritischer, nach der sogenannten Wende, wie vor dieser.
Er ist ein aufmerksamer Zuhörer, ein scharfer Beobachter, ein Chronist und Intellektueller, der nicht im Elfenbeinturm wohnt. Einer, der die `kleine Form´ dem welterklärenden Roman vorzieht und dessen subversive Texte viele Ebenen bespielen.
Zieht er Schlussfolgerungen, so präsentiert er diese nicht mit einer Aura von Allgemeingültigkeit, stets ist klar, dass dies das ist, was er aus Gegebenheiten, Sachverhalten oder Ent-wicklungen für sich als wesentlich erachtet - ich scheue vor dem Wort wahr zurück, das wäre zu statisch.
Gibt es den Begriff `humanistischer Humor´? Lutz Rathenow verfügt über einen solchen.
Dazu kommt die Fähigkeit einer Distanz zu sich selbst und eine ganz präzise Sprache. Das beinhaltet auch die Erfindung neuer Worte, wenn es kein geeignetes gibt.
Als Stilprobe hier noch einige Zitate aus unterschiedlichen Genres und Zeiten:
"Meine Zuversicht schöpfte ich eher aus einer gewissen, an Stanislav Lem trainierten Katastrophensensibilität: vor allem die Neugier nicht verlieren, bei geschickter Nutzung der Raumkrümmung sich selbst überholen und mit Spott trösten. Die Zeit streicheln, damit sie noch eine Unendlich-keit durchhält und die allgemeine Reglosigkeit verhindert."
"Alle Zuhörer hatten verschämt gelacht, als der Text ("Zukunft der Mauer von 1987) vorgelesen wurde. Am nächsten Tag ging jeder an seine Arbeit, abreagieren und vernünftig bleiben. Es gab eine verfaulte Vernunft in dieser Stadt, diesem Land, die es zugrunde gerichtet hat. Es schien immer unvernünftig zu sein, sich in fundamentale Opposition zu begeben, Widerstand zu leisten. Wie oft hörte ich das Argument, dass doch alles keinen Zweck habe. Aber darauf kommt es an: eine Neugier zu entwickeln, die auch ohne Kenntnisse eines lohnenden Zweckes funktioniert. Aus moralischer Eigenverantwortung, unerbittlichem Aufhellungszwang, vielleicht aus kindlichem Spieltrieb. Im Zweifel immer die Öffentlichkeit suchen."
"Mich interessiert eine Ethnologie der Gesten. Wie Menschen optisch Beziehungen herstellen. Vertraut oder befremdet. Wie sich Gruppen bilden und auflösen, jener Moment, in dem alles auseinander zu gehen, zu fließen beginnt. Noch letzte Schritte, schon erste Schritte - Augenblick verdichteter Wirklichkeit. Eine vergehende Zeit kreuzt sich mit einer beginnenden."
"In einer Zeit, in der wichtige Künstler und Schriftsteller aus Ostberlin im Westen landeten (hinausfreiwilligt) ...."
Der Titel des Buches wurde dem Text "Den Raum krümmen und die Zeit dehnen" entnommen, er ist perfekt gewählt:
"Bereit sein für Unerwartetes, Riskantes, um aus dem Gefängnis des Gewohnten zu entkommen. Von mir aus hätte sich damals meine Geburtsstadt in eine Rakete verfrachten und ins Uniersum schießen können. Trotzig lächeln und das Weltall streicheln."
Lutz Rathenow: Trotzig lächeln und das Weltall streicheln - Mein Leben in Geschichten
kanon verlag, 2022, 272 Seiten