Imre Rochlitz - Wie ein Film in Zeitlupe

Eine unglaubliche Flucht in Jugoslawien zwischen 1938 und 1945

Die Lebenserinnerungen des Wiener Juden Imre Rochlitz sind von unschätz-barem Wert. Er beschreibt die Jahre seiner Flucht vor den Nazis detailreich, ehrlich, darum bemüht, sich an keiner Stelle als Held zu präsentieren, und er bettet seine persönliche Geschichte ein in die Geschichte der Zeit, vor allem die des Balkans mit seinen vielen unter-schiedlichen Interessensgruppen.

 

Imre kommt 1925 in Ungarn zur Welt. Als er zwei Jahre alt ist, geht die Familie (er hat noch einen älteren Bruder, Max) nach Wien, zwei weitere Jahre später verstirbt sein Vater.

Die junge Witwe zieht mit ihren Söhnen zu ihrer Mutter,

wo auch noch unverheiratete Onkel und Tanten leben. 

Die wirtschaftliche Lage ist nicht gut in Österreich, sie ist auch der Grund dafür, dass seine Onkel noch immer ledig sind. Sie können sich keine eigene Familie leisten, ein allge-meines "Gefühl des Niedergangs" bestimmt das Leben des Landes.

 

Die Atmosphäre seiner Kindheit und auch die der Stadt Wien beschreibt Imre Rochlitz sehr lebendig im Prolog seines Buches. 

Thema ist unter anderem das Verhältnis seiner Familie zum Judentum und das zu Österreich:

"Doch obwohl wir uns so stolz mit Österreich identifizierten, wussten wir, dass uns unsere ungarischen Pässe und unsere jüdische Religion für die Österreicher selbst völlig inakzep-tabel machten."

 

Und doch ist weder er noch ein anderes Mitglied seiner Familie immun gegen die Nazipropaganda ab 1933:

"Paradoxerweise begann ein Teil der immer giftiger werden-den Nazi-Propaganda auf uns abzufärben; antisemitische Vorurteile drangen nicht nur in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, sondern sickerten auch in unser eigenes ein. Eine Abneigung gegen die nicht assimilierten jüdischen Massen Osteuropas zu hegen, wurde sogar für uns "akzeptabel". Wir verachteten typisch jüdische Merkmale und Gewohnheiten..."

 

Sie erliegen der Illusion, Teil der österreichischen Kultur und Nation - "in meinem Herzen war ich Österreicher - und außerdem sah ich nicht einmal jüdisch aus!" - zu sein.

Dies führt auch dazu, dass sie das Land nicht rechtzeitig verlassen. Außerdem die Frage: wohin ohne ausreichende finanzielle Mittel?

 

Am 12. März 1938 marschiert die deutsche Armee in Öster-reich ein, am 8. Juli kann Imre nach Jugoslawien fliehen.

In Zagreb kommt er bei einem Onkel unter, er ist dreizehn Jahre alt und ein "illegaler Flüchtling". 

An einen Besuch der Schule ist nicht mehr zu denken, er muss unauffällig bleiben. Das einzige Vergnügen ist das Kino: hier entwickelt sich seine große Sehnsucht nach Amerika, Symbol der Freiheit. Er wird 1947 in die USA auswandern, nach Jahren voller Gefahr in Gefängnissen, Lagern, dem Leben in  Verstecken. 

 

Imre Rochlitz wählt eine besondere Art, seine Geschichte zu erzählen: er geht chronologisch vor, als Leser:in kann man seinen Weg durch Jugoslawien auch auf den Karten, die dem Buch beigefügt sind, verfolgen. Aber immer wieder wirft er jedoch einen Blick in die Zukunft:

"Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und Max, in der Hoffnung, dass sie bald nach Zagreb nachkommen würden, und begab mich auf eine siebenjährige Reise, an deren Ende sie tot sein würde und die Welt, wie ich sie kannte, in Trümmern."

Oder:

"Überhaupt nichts deutete jedoch darauf hin, dass diese schwelenden Feindseligkeiten in jene entsetzliche, blut-rünstige Raserei ausarten würden, die nur wenige Monate später von der Ustascha, den kroatischen nationalistischen Extremisten, gegen Serben, Roma, Sinti und Juden entfesselt wurde."

 

Diese Ausblicke wirken wie der Versuch, die Leser:innen auf einen kommenden Schrecken vorzubereiten, sie nicht erst mit den Geschehnissen zu konfrontieren, wenn sie eintreten.

 

Es gibt viele Szenen, die durch Mark und Bein gehen. Situationen, die von Hilflosigkeit und Resignation erzählen, vom "perversen Vergnügen" an der Grausamkeit vieler mächtiger Männer, von Hungerqualen und Erfrierungen, Scheinerschießungen, davon, dass er mit siebzehn Jahren "akzeptiert, dass dies der Ort war, an dem ich sterben würde."

Da ist er im KZ Jasenovac, ist einer der vielen "lebenden Toten", die dort inhaftiert sind. 

 

Als er plötzlich entlassen wird, dies dürfte eine "einzigartige Ausnahme" gewesen sein, ist er "fassungslos". Er hat sein Leben einem Nazi-General zu verdanken, an diesen richtete sein im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Onkel Ferdinand ein Gesuch. Es gleicht einem Wunder, dass es akzeptiert wurde.

 

Zufälle, meist weit weniger spektakuläre, ereignen sich  immer wieder, ohne sie hätte Imre nicht überlebt.

Dies betont er auch in seinem Vorwort:

"Wir, die wir überlebt haben, verdanken unser Leben dem Zufall; in keiner Weise waren wir ehrenwerter, klüger oder stärker als jene, die vergast, erhängt, erschossen oder abge-schlachtet wurden."

 

Sein Leidensweg ist nach der Entlassung aus dem KZ nicht zu Ende. Er flieht in den italienisch besetzten Teil des Landes, wird wieder interniert, an verschiedene Orte transportiert, bis nach der Kapitulation Italiens im September 1943 die Lagertore von Titos Partisanen geöffnet werden.

Ihnen wird Imre sich anschließen, zu seiner eigenen Über-raschung wird er zum Assistenten des Veterinärs ernannt, nach dessen Verschwinden sogar zum Leiter der Tierklinik.

Vor allem in diesem Teil des an Anekdoten reichen Buches blitzt immer wieder der unerschütterliche Humor des Autors durch, irgendwie hat er es geschafft, dass dieser ihm nicht abhanden kam, auch wenn er viele Familienmitglieder und Freude während der Naziherrschaft verloren hat.

 

Imre kommt mit dem Kommunismus in Berührung, eine anfängliche Begeisterung für dessen Ideale weicht, als der die "ideologische Tyrannei" beobachtet. Und auch den Umgang mit Menschen, die doch alle gleich behandelt werden sollten: "Wenn für den Endsieg schon Menschenleben geopfert werden mussten, war es sinnvoll, weniger zuverlässiges und erwünschtes Menschenmaterial zu verschießen und die vertrauenswürdigeren, weniger problematischen Elemente für eine problemlose kommunistische Zukunft zu erhalten."

 

Dies ist einer der wenigen zynischen Sätze des Buches, insgesamt ist es erstaunlich um Nüchternheit und Klarheit bemüht. Imre Rochlitz will sich den Blick nicht durch Hass trüben lassen, wie er auch nicht auf Rache sinnt.

Noch im Lager der Partisanen in den Bergen hätte er die Gelegenheit gehabt, einen gestrandeten, erschöpften, deutschen Soldaten zu erschießen: 

"Ich hatte keine Lust, mich an einem so bemitleidenswerten und hilflosen Wesen zu rächen." 

Diese menschliche Haltung bewahrt er sich, sein Buch zeichnet sich durch Ausgewogenheit und nicht durch Bitterkeit aus.

 

Imres Traum ist und bleibt Amerika. Es braucht viele weitere Zufälle, er erlebt mehr als eine dramatische Situation bis er sein Ziel erreicht. Doch er schafft es, 1945 auf einem Boot nach Süditalien evakuiert zu werden. Nach zwei Jahren in Bari und Rom, wo er für eine jüdische Hilfsorganisation arbeitet, erhält er sein "sehnlich erwartetes Einwanderungs-visum" für die Vereinigten Staaten.

Sein Bruder Max, der den Krieg in England überstanden hat, emigrierte 1949 ebenfalls in die USA.

 

1981 reist Imre Rochlitz durch Jugoslawien, was ihn dazu veranlasst, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, unter-stützt durch seinen Sohn Joseph. 

Dem Buch sind Fotografien, Dokumente aus Archiven oder Museen, und, wie bereits erwähnt, Karten beigefügt.

Manche Passagen sind kursiv gesetzt, bei ihnen handelt es sich um Tagebucheinträge, die in den Gesamtkontext eingefügt wurden. Der Appendix enthält eine Liste mit über fünfzig Namen jener Piloten oder Soldaten, an deren Rettung Imre Rochlitz während seiner Zeit als Partisan beteiligt war.

Glossar, Auswahlbibliografie, Abbildungsverzeichnis und Index runden dieses in jeder Hinsicht lehrreiche, erstaun-liche und gelungene Buch ab.

 

Ganz große Empfehlung!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Imre Rochlitz: Wie ein Film in Zeitlupe - Eine unglaubliche Flucht in Jugoslawien zwischen 1938 und 1945

Übersetzt von Katharina Manojlovic

mandelbaum Verlag, 2023, 280 Seiten