Rebekka Salm - Die Dinge beim Namen

"Das Dorf braucht jemanden, der danach schaut, dass die Dinge in Ordnung bleiben.

Und wenn die Dinge aus der Ordnung geraten sind, dann musste dieser Jemand dafür sorgen, dass sie wieder in Ordnung kamen. Das Glück oder das Unglück eines Einzelnen war dabei von untergeordneter Bedeutung."

 

 

Diese Worte stammen vom alten Lysser, dem Dorfpolizisten. Über vierzig Jahre war er der Garant für Sicherheit und  Frieden in einem Schweizer Fünfhundertseelendorf.

Er ist  die Ordnung in Person, doch auch sein Leben fußt auf einer ungeheuren Tat.

 

Dreh- und Angelpunkt des Debütromans von Rebekka Salm, geb. 1979 in Liestal bei Basel, ist ein Vorfall aus dem Jahr 1984. Ausgehend von diesem Ereignis entwickelt die Autorin eine dichter und dichter werdende Geschichte mit einer überschaubaren Anzahl an Personen. Aus deren Handeln und Schweigen webt sie das Porträt einer geschlossenen Gesellschaft, in der jeder alles über jeden weiß, zumindest zu wissen glaubt. Es werden Geschichten hinter vorgehaltener Hand erzählt, jeder strickt seine eigene Variante, es stellt sich die Frage: wann wird ein Ereignis wahr? 

Wenn es passiert, wenn es erzählt wird, oder wenn, wie hier, jemand die Frechheit besitzt, darüber zu schreiben? Sprich,

es zu fixieren, sich für eine Version des Geschehenen zu entscheiden? 

 

"Die Leute im Dorf mochten es nicht gerne, dass der Vollenweider schrieb. Diejenigen, die dummes Zeugs redeten, hatten Angst, dass der Vollenweider aufschrieb, was sie da Dummes redeten. Und diejenigen, die schwiegen, fürchteten sich, dass der Vollenweider aufschrieb, was sie hätten verschwiegen und vergessen haben wollen. Er hatte schon Prügel eingefangen wegen seiner Schreiberei, der Vollenweider."

Indem er die Geschichte aufschrieb, wurde "aus Sitte plötzlich Sünde und aus einem Sieger ein Sauhund."

 

Was ist passiert, an jenem Abend 1984? Nach einem Konzert des Musikvereins wurde der damals sechzehnjährigen Sandra Gewalt angetan. Sie rang sich dazu durch, diesen Vorfall zur Anzeige zu bringen, doch der Polizist, Lysser, gab zu bedenken: "Ob sie denn nicht das Gefühl habe, an dem, was passiert sei, Mitschuld zu tragen, hatte er sie liebevoll, aber mit gebotener Strenge gefragt. Da hatte sie verschämt zu Boden geschaut und war gegangen. ... Wem wäre denn mit einer Anzeige geholfen gewesen?"

Unglücklicherweise ist sie schwanger geworden, doch der Vater des Kindes heiratet sie zum Glück, so bleibt die Ordnung erhalten. 

 

Mehrere Personen haben beobachtet, was geschah, keiner schritt ein, keiner kam Sandra zur Hilfe. 

 

Die Figuren des Romans gleichen sich in einem Punkt: 

keine hat Glück im Leben. Es gibt keine auch nur annähernd gelungene Ehe, einige davon blieben kinderlos. Was auch daran liegt, dass mehr als ein Mann Zuneigung zu Männern empfindet, dies wird natürlich tunlichst geheim gehalten. In den Familien herrschen Gleichgültigkeit oder Gewalt, ohne die Institution "Chantal", einer Osteuropäerin, die am Rand des Dorfes lebt, wäre das Leben für alle, auch die Ehefrauen, noch unerträglicher.

 

Warum also verlässt niemand diese Hölle aus Blicken, Schweigen und Geschichten?

 

Micha, die unverheiratete und kinderlose Mittdreißigerin versucht es jeden Samstag. Sie fährt in einen Klub in die Stadt. Doch: "Emotionen waren im Klub eine heikle Sache. ...  Freude und Verlangen. Mehr war nicht drin. Traurigkeit, Angst und Ärger waren der Welt ausserhalb des Klubs vorbehalten. ...  In den letzten Jahren aber war das Leere-gefühl in ihr stetig gewachsen. ... Sie frage sich, ob sich Klub und Dorf in ihren starren Regeln und Abläufen vielleicht ähnlicher waren, als sie bis anhin gedacht hatte." 

 

Mit Hinweisen wie diesen hebt Rebekka Salm ihren Dorf-Horror-Roman über das Dorf hinaus. 

 

Ebenso in der Figur der elfjährigen Julia, der Sandra die Sage der Johalla erzählt hatte. Diese wird von einem jungen Mann namens Melk hintergangen, sein Verhalten endet für Johalla tödlich.

 

Julia ruft sich ein Gespräch mit Sandra in Erinnerung:

"... dachte sie daran, wie sie Sandra gefragt hatte, ob irgendwer Melk für seine böse Tat bestraft habe. Da hatte Sandra gelacht. So wie Erwachsene eben lachen, wenn ihnen nicht ums Lachen ist.

"Nein", hatte Sandra geantwortet.

"Aber warum nicht?"

"Weil niemand die Melks dieser Welt bestraft."

"Warum ist das so?" ...

"Es ist halt so."

"Nein", hatte Julia erwidert. "Es ist nur so, weil es niemand ändert. Einer muss Johalla erlösen."

"Da wird keiner kommen", hatte Sandra geseufzt.

"Dann muss sie sich eben selbst erlösen."

Da hatte Sandra geschwiegen."  

 

Immer wieder musste ich mir bei der Lektüre ins Gedächtnis rufen, dass der Roman in unserer Zeit spielt.

Vieles im Denken und Verhalten der Menschen scheint in zurückliegende Jahrhunderte zu gehören, Rebekka Salm führt vor Augen, wie quälend langsam sich die Dinge ändern. 

 

Mit einem kleinen Schritt in Richtung Freiheit, oder, wie Julia es nannte, Erlösung, endet der Roman für Sandra.

Sie ist nun fünfzig.

"Fünfzig war das Doppelte von jung und mehr als die Hälfte von tot. Sie betrachtete ihr Gesicht. Es war dasselbe Gesicht, das ihr immer entgegenblickte, wenn sie in den Spiegel schaute. Bei genauerem Hinsehen allerdings waren es vielmehr Bruchstücke verschiedener Gesichter, die zusammengesetzt dieses eine, nämlich Sandras Gesicht ergaben ..."

Sie hat noch Zeit, ihr Gesicht, ihre Sicht, ihre eigene Ordnung, ihre eigene Geschichte zu finden und zu erzählen. Hoffentlich.

 

 

Die Zitate zeigen den unaufgeregten, reduzierten Stil der Autorin. Sie verzichtet auf Beschreibungen des Dorfes oder der Landschaft, sie widmet sich konzentriert den Figuren.

Aus deren Gedanken und den Berichten des Erzählers, was passierte, setzt sich der Roman zusammen.

Er geht tief an die Wurzeln des menschlichen Zusammen-lebens, das sich in diesem kleinen Dorf verdichtet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rebekka Salm: Die Dinge beim Namen

Knapp Verlag, 2022, 182 Seiten