Wolfgang Schiffer & Dincer Gücyeter -
Die Backstage eines Buches

In 21 eigens für diese Anthologie verfassten Texten führen Autor:innen und Herausgeber in den "Maschinenraum" der Litera-tur. Der Blick hinter die Bühne fördert erstaunliche Erkenntnisse zutage. Zum Beispiel, wie eigen-ständig sich die Geschichten und ihre Figuren entwickeln. Aus einer Nebenfigur wird plötzlich der Protagonist, ein Gedanke am Rande fängt an, sich zum Hauptinteresse empor zu schwingen, eine bereits ausgearbeitete Person ist nach der soundsovielten Überarbeitung nicht mehr mit von der Partie.
Interessant ist auch, dass manche Geschichten jahrelang schlummern, das Interesse scheint vergangen. Doch wie aus dem Nichts taucht eine Spur auf, die `unterirdisch´ vor sich hin arbeitete und irgendwann den Weg an die Oberfläche fand.
Schriftsteller:innen aus allen Genres, mit völlig unterschied-lichen Hintergründen und Werdegängen, mit verschiedenen Auffassungen, was Literatur bedeutet bzw. was sie leisten soll - soll sie aufklären, erziehen, die Fantasie entfachen, einfach erfreuen und unterhalten?, haben den Entstehungsprozess eines ihrer Bücher beschrieben.
Anne Rabe, die über ihr Buch "Die Möglichkeit von Glück" schreibt, wählt die Überschrift "Das Haus". Dieses Haus beherbergt das konkrete Zimmer, in das man sich zum Schreiben zurückziehen kann. Sofern nicht gerade Lockdown ist und das Wohnzimmer mit Schreibtisch zum Zimmer für alle wird. Doch es ist auch der "Raum der Recherche" und nicht zuletzt der "Text selbst":
"Auch der Text selbst ist ein Raum. Man kann ihn abmessen. So und so viele Zentimeter breit, so und so hoch, so und so tief. Wenn der Text ein Buch wird, hat er eine Farbe, einen Geruch und auch ein konkretes Gewicht. So ein Buch ist ein Sichbehaupten in der Welt und ein materialisierter Beweis für die Existenz des eigenen Denkens. Es ist aber auch die Möglichkeit, sich mit dem Denken von anderen zu verbinden. Wenn jemand die Worte liest, die ich geschrieben habe, dann gehen wir für einen kurzen Moment, zwar unabhängig voneinander, aber doch synchron, gedanklich den gleichen Pfad. Vielleicht ist das Magie."
Diesen Pfad verbreitert Ulrike Anna Bleier noch. Zusätzlich zu ihrem Buch "Spukhafte Fernwirkung", ein aus der Physik bzw einen physikalischen Zustand beschreibender Begriff, entwickelte sie eine App, mit deren Hilfe "der Roman von jeder Person weitergeschrieben und um all die Geschichten erweitert werden, die mir selbst nicht einfallen, weil mein Horizont und meine Sichtweise begrenzt sind, geprägt von meiner eigenen kleinen Lebensrealität."
Ulrike Engelhardt schreibt in "Lücken und Leerstellen" über Sansibar, ihre innere Stimme. Selbst überrascht, stellt sie fest: "So etwas kann man sich nicht ausdenken. Zumindest ich kann das nicht. Solche Zeilen schenkte mir Sansibar."
Immer wieder machen die Schriftsteller:innen deutlich, wie gespickt von Selbstzweifeln ihr Schreiben ist, wie dankbar sie für Einfälle, die Geschenken gleichen, sind. Sie reflektieren ihre persönliche, d.h. immer auch eingeschränkte Sicht auf die Welt mit. Beschreiben das Mäandern ihrer Gedanken, das Verschieben von Kapiteln, die, zum Teil auch zusammen mit Lektoren, angestellten Überlegungen, wie eine Form zu finden ist, die in sich logisch ist. Die funktioniert und die Lesenden nicht ratlos zurücklässt.
Es sei denn, die offene Form ist Absicht: lose Enden übrig lassen, keinen Schluss schreiben, Einladungen zum Weiter-denken aussprechen.
Mesut Bayraktar beschreibt, wie er zu seiner "Poesie des Widerstands" fand, Alena Schröder drückt ihre Freude darüber aus, vom Journalismus hin zum Roman gefunden zu haben: was für ein Glück, "mir Dinge einfach ausdenken zu dürfen". Sasa Stanisic stellt fest: "Schreiben ist Teamarbeit", Monika Rinck gibt einen Einblick in die überbordende Vielfalt an Quellen, aus der ihre Anregungen stammen.
Sie empfindet sie alle als Beiträger zu ihren Texten.
Daniela Dröscher schreibt über die Autofiktion, die "vor einem 1-zu-1-Vergleich mit der Wirklichkeit" schützt.
Behzad Karim Khani wählt einen anderen Teil des Back-stagebereichs.
Er schreibt nicht über die Entstehung seines Buches "Hund, Wolf, Schakal", sondern über dessen Aufnahme durch die Kritiker:
"Man stellte die Kredibilität meiner Geschichte infrage. ... Sie mögen es übrigens überhaupt nicht, wenn Menschen wie ich über sich sagen, sie seien gut in etwas. Sie wollen uns bescheiden. Klein. Berechenbar. Sie wollen unsere Wunden begutachten, unser Leid testen, uns kleine ungefährliche Schritte machen sehen und dann sagen: "Schauen Sie sich an! Sie haben es doch zu etwas gebracht in unserem Land.
So schlecht kann es hier gar nicht sein. Warum also so mürrisch?" Als wäre es ihre Leistung und nicht unsere.
Es ist aber unsere. Allein unsere."
Jedes literarische Buch (in den veröffentlichten leben auch die verworfenen) ist eine ungeheure Leistung.
Eine Geschichte kann sich verselbständigen, aber sie schreibt sich nicht von selbst. Jedes Wort ist eine Entscheidung, beeinflusst von unzähligen Voraussetzungen, nein Voraus-gehungen, denn es ist ein fluider Prozess.
Dieser sonst selten mögliche Blick in besagten "Maschinen-raum" ist fantastisch. Er erhöht noch einmal die Wertschätz-ung der Literatur.
Wolfgang Schiffer & Dincer Gücyeter (Herausgeber):
Die Backstage eines Buches
ELIF Verlag, 2025, 204 Seiten