Anne Serre - Die Gouvernanten

Dieses flirrende, an keinem bestimmten Ort, in keiner bestimmten Zeit spielende Märchen erzählt von der glücklichen Selbstvergessenheit der Jugend. Verbindet man mit der Bezeichnung `Gouvernante´ eher eine strenge, um Anstand bemühte Dame, so sind die drei Protagonistinnen hier jung, voller Leben und Sehnsucht, disziplinlos und höchst interessant.

 

Der Anfang des Romans liest sich wie eine Bildbeschreibung. Der Garten, das Haus, die jungen Frauen, um sie herumspringende Jungen entführen die Leser:innen sogleich in eine zauberhafte Welt. Die Gouvernanten begeben sich in den Salon, sie planen einen Ball. Dieser soll stattfinden, bevor die Herrschaft, Monsieur und Madame Austeur, mit ihren vier Kindern und dem ganzen Gefolge vom Strandurlaub zurückkehrt. Während der Planung tollen dutzende Jungen durch das Haus, auf diese sollten die Gouvernanten eigentlich achten, doch sie sind und bleiben sich selbst überlassen. Denn Éléonore, Laura und Inés (diese dritte versorgt den greisen Herrn von gegenüber, ist jedoch ständig zugegen) haben besseres zu tun.

 

Blutjung sind sie nicht mehr, alle haben bereits mehrere oder längere Liebschaften hinter sich. Doch dieses Vorleben "starb an dem Tag, als sie in den Dienst von Monsieur und Madame Austeur traten".  

 

Anne Serre tut alles dafür, eine schwebende Atmosphäre zu schaffen, in der die Frauen frei agieren können. Sie unter-liegen nicht den bürgerlichen Normen (wie das Ehepaar Austeur), sie tanzen nackt in der Sonne, strecken den am Gartentor vorbeikommenden Männern eine Brust oder eine Pobacke entgegen, sie kennen keine Scham, keine Ängste, sie warten nicht nur auf eine Gelegenheit, ihre Begierden auszuleben, sie führen diese herbei.

 

Gelangt ein Fremder in den Garten, wird er gejagt, "nach allen Regeln der Kunst gepackt, geleckt, gebissen, verschlungen". Sie sind nicht zimperlich: "Es ist sechs Uhr abends, als sie aufhören. Der Mann ist ausgeblutet, die schönen Hände liegen geöffnet, wie verlassen neben seinem Körper. Weil er friert und sich nicht regt, ziehen sie ihn wieder an. Dann machen sie sich leicht erschöpft, glücklich und erfüllt auf den Weg nach Hause, ohne ein Wort zu sagen."

Und: "Kaum hatten sie den hilflosen Fremden verschlungen, wurden sie wieder zu drei armen kleinen Gouvernanten."

 

Monsieur Austeur fällt die Aufgabe zu, das Haus in Ordnung zu halten. Nicht im haushälterischen Sinne, dafür ist natürlich Madame zuständig. Er darf sich aber als König dieser Welt fühlen - bis er entthront wird, von einem Baby! Laura bekommt einen Jungen, ist eine kurze Weile völlig verzaubert von ihm, überlässt die Mutterpflichten jedoch bald allen Frauen des Hauses. Das Zentrum des Hauses bleibt trotzdem oder vielleicht gerade deshalb das Zimmer, in dem der prächtige Säugling residiert. 

 

Eine weitere Rolle, die des Beobachters, füllt der greise Nach-bar aus. Mit seinem Fernrohr schaut er in den Garten, in die Fenster, ihm entgeht keine Kleinigkeit, er ist hoch zufrieden mit all dem, was er sieht. Bis er eines Tages auf der anderen Seite des Hauses "mit seinem Fernrohr Stellung" bezieht. Und nun Feldhasen zu Gesicht bekommt. Warum wendet er sich ab?

 

Der Roman ist offenherzig und geheimnisvoll zugleich. Die Gouvernanten können rasende Mänaden sein, sie können aber auch steife, verkniffene Mauerblümchen sein. Als solche sitzen sie unscheinbar und linkisch als Gäste bei einer Hochzeitsfeier. Hier sind sie jenseits ihres Reviers, hier sind sie Fremdkörper, sich ihrer selbst nicht mehr gewiss.  

 

Die mit Selbstvergessenheit einhergehende Selbstgewissheit scheint mir der Kern dieser rätselhaften Geschichte zu sein. Sie ist auch eine Geschichte über die Ehe, nicht zufällig fallen die "jungen Schwalben" gerade bei einer Hochzeit in sich zusammen. Stets lehnen sie es ab, von Madame Austeur verheiratet zu werden, das Ehepaar Austeur hat einen merk-würdigen Pakt miteinander geschlossen und für Laura ist es selbstverständlich, dass ihr Sohn im Kreis der anderen Jungen aufwächst. Woher diese vielen Jungen unterschied-lichen Alters kommen, wird nicht erwähnt, sie sind einfach da, wie Blumen im Garten.

 

Der Roman hat viel von einem barocken Gemälde, aber mit starkem surrealistischen Einschlag. Er ist sehr einnehmend, spielt mit den Leser:innen, entführt sie in eine fantastische Welt, feiert die Sinnlichkeit. 

Das Ende ist eine große Überraschung. Eine Verwandlung, wie im richtigen Märchen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anne Serre: Die Gouvernanten

Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky

Berenberg Verlag, 2023, 96 Seiten

(Originalausgabe 1992)