Karl August Tavaststjerna - Harte Zeiten

 

 

Dieser Roman - einer der bedeutendsten des Skandinavischen Realismus - erschien 1891. Dank der Buchmese 2014, bei der das Hauptaugenmerk auf Finnland liegt, wurde er nun in einer vollständig revidierten Neuübersetzung wieder aufgelegt.

Den Titel kennt der deutsche Leser schon von dem gleichnamigen Roman aus Charles Dickens Feder, was kein Zufall ist, denn Tavaststjerna wählte ganz bewusst diese Verbindung.

 

Schauplatz des Buches ist Finnland in den Jahren 1867/68. Ein nicht enden wollender Winter zieht sich 1867 bis in den Juni, noch in diesem Monat liegt Schnee, Nachtfröste sind die Regel. Früh ist klar, dass die Ernte zu großen Teilen ausfallen wird, denn nur an sehr begünstigten Stellen kann der Roggen einigermaßen gedeihen.

Viele Menschen aus den nördlichen und östlichen Landesteilen machen sich auf den Weg in den Süden, in der Hoffnung einem Hungerwinter zu entfliehen.

 

So auch Kalle Pihl. Der Ehemann und Vater von drei kleinen Kindern lässt seine Familie in Österbotten zurück. Er beabsichtigt Geld zu verdienen und dies seiner Familie zu schicken. Daraus wird nichts, denn das wenige, das er verdient, braucht er für eigene Ernährung und die seines Pferdes. Aber er ist ein schlauer Mann, großgewachsen und nicht auf den Mund gefallen. Bald tritt er in die Dienste eines Gutsbesitzers, er arbeitet im Wald und hat sein Auskommen.

 

Der Eigentümer dieses Gutes Herrö ist der ehemalige Leutnant Thoreld, der nach dem Tod seiner Mutter den Dienst quittiert und das Gut übernimmt. Es ist mit Schulden belastet und völlig heruntergewirtschftet. Mit großen Anstrengungen gelingt es Thoreld binnen vier Jahren, es wieder auf die Beine zu stellen. Er ist ein moderner Mann, der betriebswirtschaftlich denkt; Mitleidsgefühle sind ihm ebenso fremd wie das Anhängen an alte Bräuche. Nachdem er wieder ordentlich verdient - einen guten Teil des Ertrages erwirtschaftet er mit seinem Wald - leistet er sich den Luxus eines exklusiv eingerichteten Hauses mit Orangerie und verfeinerter Lebensart.

Ein Eckchen seines Herzens sehnt sich dabei nach der Einfachheit: als junger Mann war er in einer Pfarrerstochter verliebt. Aus der Ehe wurde nichts, aber die Erinnerung an diese "Pastoralidylle" ist ihm verblieben.

 

Die Nachbarn Thorelds sind die Famile von Blume.

Herr von Blume ist Amtsrichter und bewirtschaftet das Gut seit fünfzehn Jahren. Seine Frau ist die gute Seele des Hauses mit einem großen Herzen für all die Armen, die durch die Gegend ziehen und um Arbeit und Brot bitten. Die Tochter Louise, siebzehn Jahre alt, kommt ganz nach der Mutter.

Sie strebt nach einem gottgefälligen Leben und hilft wo es nur geht.

 

Tavaststjerna thematisiert in seinem Roman das Aufeinandertreffen von alter, bäuerlicher, immobiler Zeit und der neuen Zeit, die von Mobiliät - es wird gerade die Eisenbahnlinie gebaut - und Eigenverantwortung geprägt ist. Viele ehemalige Bauern finden Arbeit beim Eisenbahnbau, was ein Segen ist, aber: zu welchen Bedingungen? Je mehr Arme nach Arbeit suchen, desto geringer werden die Löhne. Die Arbeitsbedingungen sind unvorstellbar schlecht. Und es gibt keinen Gutsherr mehr, der sich für sie verantwortlich fühlt.

 

Der Autor macht auch ganz deutlich, dass die Hungersnot nicht primär eine Naturkatastrophe ist, sondern ein Versagen der Regierung. Rechtzeitig erreichen detaillierte Berichte über den Zustand der Landwirtschaft und der Ernteaussichten die Verantwortlichen, diese reagieren zuerst gar nicht. Wäre früh genug Getreide aufgekauft und an die Darbenden verteilt worden, hätte das Schlimmste verhindert werden können. Aber was tut die Regierung: Sie verfügt, dass jeden Sonntag intensive Gebete in allen Kirchengemeinden gesprochen werden, denn in so einer Situation kann nur noch der Eine helfen.

 

Gutsbesitzer wie von Blumes helfen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, doch sie sind die Vertreter der alten Ordnung. Als am Ende Frau von Blume an Typhus stirbt (sie hat sich bei ihren Pfleglingen angesteckt), stirbt mit ihr ein Teil der Kultur. 

Als sie schon krank darnieder liegt, findet auf Herrö ein rauschendes Fest mit bestem Essen, erlesenen Weinen und Musik statt. Minister sind angereist, Eisenbahningenieure, wichtige Herren: sie alle gratulieren sich gegenseitig zu ihrer Wichtigkeit und ihrem Können.

Am Zaun stehen die Landarbeiter, Bettler und Halbverhungerten, warten auf Essensreste und freuen sich über die kostenlose Musik.

Jeglicher Gedanke an Aufbegehren oder Rache liegt ihnen fern. Sie sind gute Kinder ihrer Gemeinde.

 

Doch zurück zu Kalle Pihl. Dieser hat sich mit Hilfe eines Kirchenscheins (eine Art Geburtsurkunde, Personalausweis und Leumundszeugnis in einem), den er einem anderen Österbottnier abgeluchst hat, eine zweite Ehefrau verschafft. Mit dieser zweiten Ehe bekommt er auch eine nagelneue Kate und eine Kätnerstelle. Thoreld hat auf diese Art die hübsche Magd Anna Mellilä versorgt.

 

Mit all den anderen bettelnden Menschen taucht eines Tages auch Johanna Pihl mit den Kindern in der Gegend auf.

Kalle leugnet, sie zu kennen, er möchte sein schönes Leben mit Anna nicht gefährden. Doch Johanna wendet sich an Thoreld, der ihr zu helfen versucht. Dabei will Johanna nicht, dass ihr Mann wegen der Doppelehe vor Gericht kommt, sie möchte nur erreichen, dass er für sie und die Kinder sorgt. 

Aus diesem Doppelspiel von Kalle Pihl entwickelt sich ein tragisches Ereignis, das in der Folge noch ein deutliches Licht auf die Gerichtsbarkeit des Landes wirft.

 

Der Doppelmord an dem Betrüger und seiner unwissenden Frau ist wie die Hungersnot keine Naturkatastrophe. Der Täter ist nicht von Natur aus ein Mörder - die Umstände der Zeit, das politische System, ein völliger Mangel an Bildung tragen ebenso ihren Teil zu der Tat bei wie der Charakter und die Unbeherrschtheit des Täters.

 

Tavaststjerna hat seinen Roman kunstvoll um dieses Verbrechen herum aufgebaut. Es bietet ihm Gelegenheit, alle Schichten darzustellen, verschiedene Arten zu denken und zu handeln, Institutionen und Zeitereignisse zu beschreiben und dabei die Menschen nicht aus den Augen zu verlieren.

Wie Dickens, der so unübertrefflich das 19. Jahrhundert in England mit all seinen Verwerfungen beschrieben und dabei so unsterbliche Figuren wie Oliver Twist geschaffen hat, entwirft Tavaststjerna ein Bild des damaligen Finnland aus mehreren Sichtebenen.

 

Der Roman gehört zu den wichtigen Büchern des

19. Jahrhunderts, wie gut, dass es jetzt neu übersetzt wieder aufgelegt wurde.

 

 

 

 

 

Karl August Tavaststjerna: Harte Zeiten

Übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke

dtv-Taschenbuch, 2014, 272 Seiten

(Originalausgabe 1891)