Ralph Tharayil - Nimm die Alpen weg

"Y steht auf vom Sattel und strampelt, auch wenn es gar nicht

bergauf geht.

 

Du schaust zurück.

 

Nimm die Alpen weg, rufen wir und

machen Spaß.

 

                                              Es geht immer

                                              bergauf."

 

 

Der Roman Ralph Tharayils ist in mehr als einer Hinsicht ungewöhnlich. Er ist in der Form eines langen Prosagedichts verfasst und aus der Perspektive eines "wir" geschrieben.

Man kennt den Ich-Erzähler, hier tritt ein Geschwisterpaar auf, das wie ein Chor das Lied seines Lebens singt.

 

Das "wir" ist ein Junge und ein Mädchen. Sie gehen in die gleiche Klasse, bekommen gleichzeitig eine Zahnspange und eine Mandelentzündung, sie lieben dieselben Filme, verlegen sich später aufs Spielen am Handy. Sie sind zusammen mit ihren "Velos" unterwegs, fahren häufig zu einer Telefonzelle, da "spielen" sie dann "Gespräch", sie fahren zur Mülldeponie, um Wertsachen zu suchen.

 

Sie sind so unzertrennlich wie ihre Eltern, die ihnen wie ein einziges, göttliches Wesen erscheinen:

 

"Eltern sind erst zwei Götter, bevor sie irgendwann zu

einer Gottheit werden. Mit vier Armen statt zwei und zwei

Köpfen statt einem hören sie hin, egal ob man Ma oder

Pa ruft."

 

Die Eltern sind immer "bei der Arbeit". Ma arbeitet nachts im Krankenhaus, Pa am Tag in der "Lebensmittelbranche".

Die Kinder sind morgens alleine, sie machen sich ihr Frühstück selbst. Sie sind die einzigen Kinder in ihrer Klasse, die das tun, die Eltern der anderen sind um diese Zeit zu Hause.

 

Das ist nicht das Einzige, was anders ist als bei den Schul-kameraden. Das "wir" kennt schon früh Verantwortung und Pflicht, sie kennen Armut und Eltern, die in "ihrer Sprache" mit ihrer Familie weit weg telefonieren.

Sie erleben ihren Pa, wie er mit versteinertem Gesicht dasitzt, als er erfährt, dass sein Vater in "Pas Land" gestorben ist. Dort ist die Familie nun beieinander und betet.

 

"Wir wissen, dass Pa auf dem Friedhof nie jemanden

kennen wird, außer

 

Ma."

 

In diesen wenigen Worten steckt das ganze Drama des Lebens und Sterbens in der Fremde.

 

Schon früh wird darüber gesprochen, dass es die Kinder auf die "beste Schule" schaffen müssen, dass für die Kinder der passende Partner, d.h. einer aus dem Kulturkreis der Eltern, gesucht und gefunden werden muss. Durch das ganze Buch ziehen sich die Fragen "woher" und "wohin".

 

Ralph Tharayil wurde 1986 als Sohn indischer Migranten in der Schweiz geboren. 

In die Geschichte des Geschwisterpaares, das ganz auf sich bezogen lebt, dürften seine eigenen Erfahrungen eingeflossen sein. 

 

Das sind die alltäglichen Erfahrungen einer jeden Kindheit, aber auch die des Anders-Seins. Dafür findet er eine genaue und poetische Sprache, eine, die die Lesenden fordert, auffordert, die Zwischenräume zu füllen, mitzugehen, den Kindern zu folgen auf ihrem Weg aus dem engen Kreis heraus in die Welt.

 

Diesen Weg zeigt ihnen ein neuer Mitschüler, er kommt aus einem Kriegsland. Es ist Y, der bald "fast so viele Wörter" kennt wie die Geschwister, der ebenfalls ein Velo besitzt, und mit dem sie eines Tages losfahren. Über die Alpen hinaus wollen sie, ins Offene. Ohne Handys, die vergraben sie, sie möchten nicht mehr erreichbar und kontrollierbar sein.

 

"Wir sind nicht mehr das Ding in euch und niemand macht

uns aus, außer wir, sagen wir und streichen Y morgens über die Lider."

 

Der Roman ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte.

Die Geschwister emanzipieren sich, ganz wörtlich gelesen, gehen weg von der Hand, den vier Händen der Eltern.

 

 

Ein ganz wunderbarer Debütroman!

 

 

 

 

 

 

 

 

Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg

Voland & Quist, Edition Azur, 2023,  136 Seiten