Steven Uhly - Die Summe des Ganzen

Steven Uhly, geb. 1964, begibt sich in seinem Roman tief in die Seelen seiner beiden Protagonisten. Diese sind der Padre Roque de Guzmán, 50, und ein "Sünder", der zur Beichte in seine Kirche kommt. Diese liegt in Madrid, der Roman spielt in der Gegenwart.

Der Beichtende, Lucas Hernández, ist ein schwer gepeinigter junger Mann, der immer wieder ansetzt, seine Sünde zu gestehen, aber immer wieder flieht. Eine Woche lang kommt er täglich, immer am späten Nachmittag. Der Padre fürchtet sein Erscheinen, denn Lucas rührt an eine Sünde des Padre, die er selbst immer wieder begangen hat. Zugleich fiebert er der Beichte entgegen, schon der Gedanke daran erregt ihn.

 

Um Schuld und Sühne geht es in diesem Roman, der Tag für Tag von den Besuchen Lucas erzählt. Er sagt, er sei ein Nach-hilfelehrer, habe einen Schüler, dem er in Mathematik helfen konnte, und zu dem er sich sehr stark hingezogen fühle.

Der Junge sei ein Engel, ein wunderbar reines Kind, eines, das sich ihm immer weiter öffne. Er meint, auch der Junge sei von einer starken Zuneigung zu ihm erfasst, suche seine Nähe, womöglich seine Liebe.

 

Das, wovon Lucas träumt, ist noch nicht geschehen, aber er weiß, "dass es unvermeidlich stattfinden wird. Unvermeid-lich!"

 

Teil jeder Beichte ist ein Exkurs in Religion und Philosophie, Lucas ist in beiden Bereichen beschlagen.

Er zitiert Bibelstellen, spricht von den alten Griechen, bei denen die Knabenliebe selbstverständlich und nicht geächtet war. Ist Moral das, worauf sich eine Gesellschaft geeinigt hat, oder ist sie ein überzeitliches Gut? Warum hat Gott die "Ent-scheidung über Gut und Böse" den Menschen überlassen?

Lucas spricht von dem Stein, den er auf sein Herz gelegt hat, um Ereignisse der Vergangenheit unter Verschluss zu halten. Dieser Stein verhindert, dass er fühlen kann. Zwar ist er verheiratet und hat eine siebenjährige Tochter, doch er kann weder Liebe geben noch empfangen. Einzig der Knabe berührt " einen Zipfel seiner Seele."

 

Andeutungen weisen darauf hin, dass ihm das, was er mit dem Jungen zu tun gedenkt, selbst erlebt hat. Dass er weiß, was er ihm damit antut, dass er ihn auf Lebenszeit zerstören wird. Doch seine Begierde ist stärker, er steuert unaufhalt-sam auf ein Ereignis zu, das ihn direkt in die Hölle führen wird:

 

"Er denkt an den Knaben, und auch der tut ihm leid, nie wird er wiedergutmachen können, was er im Begriff ist, ihm anzutun. Niemals. Sein Herz krampft sich zusammen bei dem Gedanken an die Zukunft. Der Junge erscheint ihm wie ein Opfer, das er einem höheren Zweck darbringt. ... Das ist pervers."

 

Der Padre versucht sich gegen die aufkommenden Gefühle zu wehren, versucht, sich selbst zu beruhigen, "denn er hat ein reines Herz, er ist frei von allen Todsünden, endlich frei. Niemals zweifeln."

 

Doch die Zweifel kommen unerbittlich. Und nicht nur die. Die Beichte verstrickt den Padre unaufhaltsam in einen Strudel, in ihm bricht auf, was nur scheinbar für immer besiegt war. Als er dann noch erfährt, welchen Jungen Lucas begehrt, kommt zur Todsünde Wollust die der Eifersucht. Er kennt den Knaben, er singt in seinem Chor. 

 

"Er fühlt sich wie jemand, der nach vielen Jahren der Mühen feststellen muss, dass er keinen Millimeter vorangekommen ist ... Seit der Sünder aufgetaucht ist, zerfällt alles, und schon hört er wieder dessen Worte, schon sieht er die Bilder, die der Sünder heraufbeschworen hat, schon fühlt er, dass die Sünde über ihn hereinbricht wie eine Sintflut, und er steht mitten in der Kirche, die seine Arche sein sollte, und ertrinkt."

 

Eine Figur in diesem Roman steht außerhalb des Zirkels von Sünder und Beichtvater. Lucas und Akachukwu lernen sich zufällig im Park kennen, der Nigerianer hält sich mit kleinen Drogengeschäften über Wasser. Er musste wegen eines Fehl-tritts seine Heimat verlassen, akzeptiert sein Leben in der Fremde aber als Konsequenz seines damaligen Handelns. 

Die Gespräche der beiden bringen eine weitere Perspektive in den Roman, werfen ein Licht auf die Haltung und Denkweise einer christlich geprägten Gesellschaft, beleuchten die Frage von Schuld und Sühne oder Vergebung von einer anderen Seite.

 

Akachukwu nennt Lucas "verirrter Elefant" - ein Hinweis auf Lucas´ Gedächtnis, die Unmöglichkeit, die Vergangenheit zu vergessen?

 

Nachdem der Roman zunächst in die erwartete Richtung geht - "Er weiß, dass er fast am Ziel ist, der Junge muss nur noch aufgeben, sich in sein Schicksal fügen, denkt er, dann wird es für uns beide schön", so der Padre - nimmt er eine unvorhersehbare Wendung. Lucas ist nicht der Sünder, der zu sein er vorgab, er verfolgt einen ausgeklügelten Plan.

 

Die eigentliche Beichte, den vollständigen Bericht dessen, was ihm widerfahren ist, legt er vor seinem Freud Akachukwu ab.

"Alles hat er jetzt erzählt, mehr als er jemals für möglich gehalten hätte. Und was ist nun die Summe des Ganzen?, fragt er sich. Wie kann er alles zusammenfassen, welches Fazit kann er ziehen, wie würde er eine solche Geschichte nennen? Wenn er das wüsste, dann wüsste er vielleicht auch, wie es weitergeht."

 

Steven Uhly erzählt sehr einfühlsam und ohne am Ende eine Patentlösung anzubieten.

In tief berührenden Passagen ist zu lesen, was der sexuelle Missbrauch in der Seele eines Kindes anrichtet. Lebenslang und existenziell. Zugleich baut er eine Spannung auf, die den Roman zu einem Thriller machen. Eine seltene Kombination, hier ist sie außerordentlich gut gelungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen

Secession Verlag, 2022, 156 Seiten