Aurora Venturini - Wir, die Familie Caserta

"Meine Zeit in der Hölle hatte ... am Tag meiner Geburt" begonnen, so Chela, die Ich-Erzählerin des grandiosen Romans. Sie ist die älteste von drei Geschwistern, geboren am 20. Dezember 1921, wie  Aurora Venturini selbst. Chela, María Micaela Stradolini, das "dürre, dunkel-häutige" Kind mit den "Glubschaugen" ist die Hölle für ihre Familie und für sich selbst.

 

Sie ist hyperintelligent, bereits mit drei Jahren kann sie lesen, sie hat es sich selbst beigebracht. Überhaupt keinen Wert legt sie auf Sauberkeit oder Manieren, sie strotzt vor Dreck und isst mit den Händen. Dafür liest sie schon im Kindesalter die großen Dichter Baudelaire, Proust, vor allem Rimbaud hat es ihr angetan. In dessen Gedichten sieht sie sich gespiegelt, hier findet sie sich selbst, wie nirgendwo sonst.

 

Weil sie den anderen Kindern weit voraus ist, wird sie gleich in die zweite Klasse eingeschult. Sie bleibt isoliert, niemand will etwas mit diesem wilden Mädchen zu tun haben, daran ändert auch ihre Herkunft aus gutem Haus nichts. Immer wieder überspringt sie eine Klasse, kommt schließlich in ein katholisches Internat - ein Unterfangen, das von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. 

 

Ihre Psychologin schreibt in einem Gutachten, das kursiv gedruckt in den Roman eingefügt ist:

"Ich persönlich halte sie für ein seltsames und sadistisches Wesen. ... Chela hat keine Gefühle für ihresgleichen und liebt nur Tiere. ... Sie tut alles, um ihre Mitmenschen zu verprellen, sie ist schmutzig und flucht. ... Chela ist ein beschränktes Genie. (Juan Sebastián ist ein beschränkter Idiot)".

 

Juan Sebastián ist Chelas fünf Jahre jüngerer Bruder. Als die Mutter mit ihm schwanger war, hatte Chela Röteln. Sind diese, also sie selbst, schuld daran, dass er kleinwüchsig, großköpfig und ein "Ungeheuer" ist?

Doch er ist der einzige Mensch, den Chela in ihre Nähe lässt. Er zieht zu ihr auf den Dachboden, sie liest ihm vor, die beiden tyrannisieren zusammen das Kindermädchen.

Jahre später wird sie ihr Studium unterbrechen, um den Bruder ein Jahr lang bis zu dessen Tod zu pflegen. 

 

Von ihm übernimmt sie Bertha, die Schildkröte, die Chela fortan überall hin begleitet. In den folgenden Jahren verlässt sie La Plata, sie lebt einige Jahre in Santiago de Chile, auf der Osterinsel, mehrfach in Paris, unterbrochen von Aufenthal-ten auf dem elterlichen Gut "La Quinta", das ihr Rückzugsort bleibt. Sie verbringt einige Zeit in Rom und in Messina.

 

Überall studiert sie, schreibt, fotografiert, lebt zeitweise wie eine Bettlerin, obwohl sie aus dem Erbe genug Geld hat.

Sie verliebt sich ein einziges Mal in einen Mann, der überaus gewöhnlich ist. Ein verheirateter, deutlich älterer Mann der Gesellschaft. Warum gerade Luis? fragt sie sich und weiß keine Antwort.

 

Ihre ganz große Liebe ist jedoch ihre Großtante Angelina Caserta. Auf ihrem Gut in Sizilien schließen sich diverse Lebenskreise für Chela. 

Sie, die sich einst als "hochbegabtes Tier", als "zoomorphische Gottheit" bezeichnet hatte, fühlt, dass ihr etwas fehlt:

"Ich verspürte eine immense Sehnsucht nach einem Zuhause, nach jemandem von meinem Blut irgendwo in Italien; ich wollte den Ursprung meiner Angst kennenlernen und mich der Ahnenbestie stellen, selbst wenn sie mich zertrümmerte."

 

Dass ihre Art zu denken und zu leben, dass die Gestalt und das Sein Juan Sebastiáns etwas mit ihren Ahnen zu habe könnte, ahnt sie schon lange. In der Bodega des alten Teils von "La Angelina", Teil der Quinta, fand sie vor langer Zeit eine Skulpturengruppe, Juan Sebastián fand später eine einzelne Figur, einen großköpfigen Zwerg. 

Ein Antiquar konnte Alter und Herkunft bestimmen, diese Hinweise führen Chela auf das Gut ihrer Großtante.

 

Schon, als sie zum Herrenhaus fährt, sieht sie "kleine Skulpturen in der Wiese aufblitzen", auf Gemälden sieht sie ihre Vorfahren, "umgeben von großköpfigen Kindern."

Angelina ist eine "Liliputanerin", die Zeit des Faschismus verbrachte sie in einer Standuhr versteckt.

 

Ihr Leben weist viele Parallelen zu dem Chelas auf: sie ist intelligent, aufmüpfig, sie schrieb für Zeitungen, ihre Familie wertete sie als "nichtsnutziges Ding" ab. Frühzeitig zog sie auf den Dachboden. Sie liebte einen Mann, mit dem sie nicht zusammenkam.

Zusammen erleben die beiden Frauen eine Zeit der Liebe, in der sie sich all das schenken, was ihnen bisher verwehrt geblieben war. "Und wir vereinten uns im Verborgenen wie zwei Äste des verdorbenen Baums."

 

In den zwischen 1925 und Ende der 50er Jahre spielenden Roman ist das Zeitgeschehen in Argentinien eingearbeitet,

es finden sich Gedanken über Politik, oder zum Verhältnis "Oberklasse" und "Bauernpack". Sogenannte einfache Leute wie Dienstmädchen oder Chauffeure bekommen kleine Auftritte, doch im wesentlichen ist der Roman auf die Erzählerin Chela konzentriert.

 

Man fragt sich, ist sie tatsächlich ein Ungeheuer wie ihr Vater gesagt hatte, oder ist sie eine einsame Seele, die aufgrund ihrer Hochbegabung nirgends andocken kann? Oder sind ihre Eltern so deformiert und entmenschlicht, so unfähig zu lieben, dass sie die wahren Ungeheuer sind? Ist Chela ein so unabhängiger Geist, wie es sich für ein Mädchen/eine Frau nicht gehört? Liegt die Saat zu ihrem Wesen in der Familien-geschichte? Diese lässt sich im übrigen bis zu einer "kretischen Sibylle" zurückverfolgen, im Meer vor Sizilien fand sich eine Steinfigur, die dies bewies!

 

Der Roman erschien erstmals 1992, geschrieben wurde er bereits in den 1960er Jahren. Er ist rasant, ehrlich bis hin zur Unverschämtheit, er entwirft verwirrende, schillernde Bilder, die Autorin fügt sehr frei Gedichte u.a. Rimbauds ein, die sie nach eigenem Gusto anpasst - die Autorin nimmt sich dieselbe Freiheit wie ihre Heldin, beide führen ein lebendiges Gespräch mit ihren Dichterlieblingen.

 

Chelas rassistischer Umgang mit dem Kindermädchen Sara irritiert heute, ebenso ihre Gnadenlosigkeit, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. So wirft sie eine selbstgebaute Bombe auf ein Altenheim, das auf dem Land errichtet worden war, das ehemals ihrer Familie gehörte. Sie lässt einen Friedhof "reinigen", der ebenfalls auf diesem Boden angelegt wurde. 

 

Zeitlebens flieht sie vor ihrer Familie, aber immer wieder regt sich in Chela das Familien-Tier, doch ihr Umgang damit bleibt radikal, orientiert sich an keiner Konvention. Sie ist und bleibt die Außenseiterin, eine irritierende, starke Frauenfigur, die neben ihrer Wut auf die Welt über genug Witz verfügt, um sie nicht in die Luft zu sprengen.

 

Der Roman fällt völlig aus dem üblichen Genre `Familien-Roman´. Er ist auch kein Entwicklungsroman im üblichen Sinne, denn die Heldin ist von Anfang an die wilde, unab-hängige und unkonventionelle Person, die sie ihr Leben lang bleibt. Von Anfang an wird sie abgelehnt, weil sie nie so war wie die anderen.

In einem Interview sagte Aurora Venturini, "sie habe in

ihrer Prosa immer nur über eines geschrieben - ihre eigene, monströse Familie."

Die Familie wird als `Keimzelle der Gesellschaft´ bezeichnet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aurora Venturini: Wir, die Familie Caserta

Aus dem Spanischen von Johanna Schwering

Mit einem Nachwort der Übersetzerin

dtv Hardcover, 2024, 240 Seiten

(Originalausgabe 1992)