Virginia Woolf - Orlando

Nach den sehr komplexen und kräftezehrenden Romanen "Mrs. Dalloway" und "Zum Leuchtturm", die Virginia Woolf 1925 bzw 1927 veröffentlichte, hat sie Lust, einmal etwas ganz anderes zu machen.

Sie schreibt: "Denn es steht außer Frage, dass es mich nach diesen ernsten poetischen experimentellen Büchern, deren Form immer so konzentriert erwogen werden muss, dringend nach einer Eskapade verlangt. Ich will über die Stränge schlagen, und zwar  ganz gewaltig."

 

Das ist ihr vortrefflich und zum reinen Vergnügen des Lesers mit dem Buch "Orlando - Eine Biographie" gelungen. 

Sie entwirft den Lebensweg eines Menschen, der im

16. Jahrhundert im elisabethanischen England als Mann geboren wird und im Jahr 1928, bei Erscheinen des Romans, immer noch lebt - und zwar als Frau.

 

In diesen vierhundert Jahren transformiert sich die Welt in eine industrialisierte und kapitalistische, die Könige wechseln, der Zeitgeist verändert sich - Orlando nimmt mal aktiv teil, mal lebt er oder sie sehr zurückgezogen, immer ist Orlando jedoch ein äußerst scharfer Beobachter, der kein Blatt vor den Mund nimmt.

 

Virginia Woolf (1882-1941) lernt 1922 die zehn Jahre jüngere Schriftstellerin Vita Sackville-West kennen, von 1925-28 leben die beiden in einer Liebesbeziehung. Als die ganz großen Gefühle abgeklungen sind, geht diese in eine Freundschaft über, die bis zu Woolfs Tod weiterbesteht. Orlando trägt deutlich die Züge Vitas, deren Sohn den Roman als den "längsten und bezauberndsten Liebesbrief in der Literatur" bezeichnet. Vita selbst war begeistert und mit ihr sowohl das Publikum als auch die Literaturkritiker.

 

Der Leser lernt Orlando kennen, als dieser sechzehn Jahre alt ist. Er übt sich in der Kunst des Fechtens und Köpfeabschlagens, aber auch in der Dichtkunst. Jeden Tag schreibt er an einer Tragödie oder einem Sonett, er hält sich gerne in der Natur auf, ist ein bisschen ungeschickt, verträumt und sucht häufig die Einsamkeit.

Ein normaler Teenager also.

Weil er von bezaubernder Statur ist und vollendete Manieren hat, fällt er der Königin Elisabeth ins Auge. Sie holt ihn an ihren Hof, macht ihn zum "Schatzmeister und Großhofmeister," sie liebt ihn. Orlando hingegen liebt "nicht allein die Gartenblumen; Wildblumen und sogar Unkräuter waren immer reizvoll für ihn." Eine seiner Großmütter war wohl Bäuerin gewesen, dieses Erbe lebt weiter in ihm.

 

Später verliebt er sich zum ersten Mal unsterblich mit Haut und Haar in die schöne russische Gräfin Sascha. Sie begeben sich abseits des Hofes und der Etikette, verleben herrliche Tage und Nächte zusammen, planen die Flucht nach Russland - da findet sich Orlando plötzlich alleine und verlassen von Sascha wieder. Sie ist ohne ihn weggefahren.

 

Er wird vom Hof verbannt (wegen Untreue), zieht sich zurück, sehnt sich nach dem Tod und wendet sich der Literatur zu. Er produziert unglaublich viel, was eine deutliche Parallele zu Vita ist, die ebenfalls sehr viel und sehr schnell schreibt. Er stattet das Haus aus, gibt Feste - er lebt das Leben eines Adeligen. Dieses beschreibt Woolf so durch und durch ironisch, dass klar wird, was sie von dieser Gesellschaft hält.

Sie schont aber auch die geistreichen Gesellschaften, in denen sich Orlando Jahrhunderte später bewegen wird, genauso wenig. 

 

Da ist er schon zur Frau geworden - dieses passierte in Konstantinopel, wohin Orlando geflüchtet und nach einer einwöchigen Trance als Frau erwacht war, was ihn/sie nicht wirklich wunderte. Sie nimmt es als gegeben hin.

Mit diese Wendung schwenkt Woolf von der männlichen Perspektive über in die weibliche.

 

Orlando verbringt zunächst einige Zeit bei den Zigeunern, bevor sie nach England zurückkehrt. Mit Reifröcken (wir befinden uns mittlerweile im 18. Jahrhundert) und dem Hang, Tränen zu vergießen, wie es von einer Frau erwartet wird.

Sie kehrt zurück auf ihren Landsitz, muss jedoch um diesen kämpfen, da sie als Frau nicht rechtmäßige Besitzerin sein kann. Auch dies eine Parallele zu Sackville-West, die das Haus ihrer Eltern, den riesigen Landsitz Knole, nicht erben konnte und ihn verlassen musste. Orlando gewinnt den Prozess, empfängt die großen Geister des 18. Jahrhunderts, muss feststellen, dass diese sie nicht ernst nehmen und begibt sich als Mann verkleidet immer wieder in die Londoner Halbwelt, wo er/sie sich besser amüsiert und mitunter mehr erfährt als in den berühmten Salons.

 

Eine Faszination, die sich durch ihr ganzes Leben zieht,

ist die der Dichtkunst. Immer wieder sucht sie die Nähe von Dichtern, nie - über all die Jahrhunderte hinweg - hört sie auf, an ihrem Gedicht "Die Eiche" zu arbeiten. Aber:

 

"Es ist tollkühn, unbewaffnet in die Höhle eines Löwen zu treten, es ist tollkühn, den Atlantik in einem Ruderboot zu befahren ... und noch tollkühner ist es, mit einem Dichter allein nach Hause zu gehen. Ein Dichter ist Atlantik und Löwe in Personalunion. Der eine ertränkt uns, der andere zerfleischt uns. Wenn wir die Zähne überleben, erliegen wir den Wellen. Ein Mensch, der Illusionen zerstören kann, ist sowohl wildes Tier wie Wassermassen. Illusionen sind für die Seele, was die Atmosphäre für unsere Erde ist. ... Wer uns unsere Träume nimmt, nimmt uns unser Leben - (und so fort sechs Seiten lang, wenn Sie wollen, doch der Stil ist ermüdend und ziemlich entbehrlich)."

 

Mit diesem Witz und kaum, dass sich der Leser mit ihr einig erklärt und sich eingerichtet hat in einem kopfnickenden Einverständnis, macht Woolf einen Schwenk und rüttelt einen mit dem Piks einer Feder und dem Zuruf: Wach auf, lieber Leser!wach.

 

Groß sind die Veränderungen des viktorianischen Zeitalters, also des 19. Jahrhunderts. Nicht nur äußerlich durch Industrialisierung etc, sondern durch den Zeitgeist, der Orlando zu schaffen macht. Plötzlich steht das Gebot der Ehe über allem. Für eine Frau gibt es kein anderes Ziel im Leben, als einen Ehemann zu ergattern. Der libertäre Adel existiert nicht mehr, die bürgerliche Moral hat sich überall niedergelassen, es gibt kein Vertauschen der Rollen mehr, kein Spiel mit Kleidung und Masken, es gibt nur noch Ringe. Ringe, die Paare aneinanderketten und die Frauen vollends ihrer Freiheit berauben.

 

Was tun? Aus dem Wahlspruch "Ein Leben und einen Geliebten", mit dem Orlando einst nach London gezogen war, wird nun "Ein Leben und ein Ehemann." 

Sie findet einen. Er ist nett und er ist Seemann, d.h. er ist nie da. Doch sie empfindet echte Zuneigung zu ihm und schickt ihm immer ein Telegramm, wenn etwas sie sehr bewegt.

In der Regel umsegelt er Kap Hoorn, vor und zurück, wie es scheint. Der ideale Ehemann also.

 

Dass sie sogar einen Sohn zur Welt bringt, wird in einem Satz erwähnt, aber darauf kommt Woolf nicht mehr zurück.

Dafür spart sie nicht mit Spott über den Literatur- und Kunstbetrieb, personifiziert in Nicholas Greene, den Orlando schon dreihundert Jahre zuvor auf ihrem Landsitz empfangen hatte. Damals war er arm und nervig, aber unterhaltsam, nun ist er reich, langweilig und gut vernetzt.

 

Sie räsoniert über die Frage der Identität bzw der "Ichschichten, aus denen wir uns zusammensetzen."

Diese Schichten, diesen Variantenreichtum, diese unerschöpfliche Verwandlungsfähigkeit des Menschen inszeniert Woolf in ihrem Roman, in ihrer Biographie über die geliebte Vita. Und sie wird nicht müde auszuführen,

wie sehr im Viktorianischen Zeitalter, das weit ins

20. Jahrhundert hinein wirkt, "alles geschrumpft" war. 

 

Virginia Woolf, die prominenteste Vertreterin des Bloomsbury-Kreises in London, der das gesellschaftliche und geistige Leben rundweg und fundamental erneuern wollte, der die Freiheit in jeder Hinsicht an erste Stelle gestellt hatte, gibt ihrer Figur Orlando viel Zeit, sich zu entwickeln und Erfahrungen zu sammeln. Erst im Rückblick über die vergangenen Jahrhunderte wird deutlich, wie viel, wie wenig sich verändert hat.

Als Orlando in einer Buchhandlung einmal viele Bücher bestellt, um sie sich nach Hause liefern zu lassen, reagieren die Menschen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts merkwürdig und doch so vorhersehbar:

 

"Mehrere Parkwächter beäugten sie argwöhnisch und gelangten erst zu einem positiven Urteil über ihren Geisteszustand, als sie ihre Perlenkette bemerkten."

Ein kleiner Satz, eingestreut in eine kleine Begebenheit, der doch sehr viel aussagt über den Zustand der Welt...

 

Die pointierte Darstellung so unterschiedlicher Zeiten und Orte, über fast vier Jahrhunderte, oszillierend zwischen Okzident und Orient, gesehen aus männlicher und weiblicher Perspektive, vereint in einer Person - und das so virtuos und leichtfüßig, begeistert.

Virginia Woolf hat mit diesem Roman über die Stränge geschlagen, wie sie es sich gewünscht und vorgenommen hatte.

Ihr ist ein großartiger Roman gelungen, voller Witz und Ironie, gekonnt mit diversen literarischen Gattungen spielend, plastisch, lebendig, ohne Längen und bis heute kein bisschen angestaubt.

 

 

 

 

 

 

 

Virginia Woolf: Orlando

Neu übersetzt von Melanie Walz

Insel Taschenbuch-Verlag, 2015, 304 Seiten

(Originalausgabe 1928)