Christine Wunnicke - Wachs

Liebesroman vor historischer Kulisse - so schnöde könnte man diesen phantastischen Roman beschreiben. Dabei vereint er die Geschichte zweier außerordentlicher Frauen, einer langen Liebe, der himmelschreienden Ungleichbehandlung von Frauen in Kunst und Wissenschaft im ausgehen-den 18. Jahrhudert, und fängt dazu den "Geist der Revolution" ein. Dies alles in der einzigaratigen Sprache und dem unendlichen Ideenreichtum der preisgekrönten Autorin.

 

Er beginnt mit einer nächtlichen Szene im Jahr 1733: eine sehr junge Frau, ein Mädchen noch, begibt sich in die Kaserne der Schwarzen Musketiere. Sie hat ein Anliegen,

das die Herren zunächst sprachlos macht:

"`Ich möchte bitte eine Leiche kaufen, so Sie eine für mich haben. Das Geld trage ich bei mir, ich kann gleich bezahlen, so es denn nicht allzu teuer ist, und meine Mutter heißt es gut.´ .... `Sie möchten was?´ .... `Den Körper einer verbliche-nen Person, sagte Mademoiselle Biheron, zum Zwecke der Anatomie.´"

 

Marie Biheron ist fast vierzehn, eine Woche später wird sie ihre erste Leiche bekommen, ein verhungertes Kind. Mit unvorstellbarer Zähigkeit verfolgt sie ihr Ziel, der beste Anatom von Paris zu werden, sie weiß, sie hat das Talent dazu: "Es ist mir in die Wiege gelegt, und Gott hat es mir gegeben!"

 

Ihre Mutter möchte, dass Marie zuerst nach der Natur zu zeichnen lernt und schickt sie in die Zeichenschule der Madeleine Basseporte. Sie ist Mitte dreißig, unverheiratet, muss das Geld für sich und ihre Mutter verdienen, da diese fast schon blasphemisch fromme Frau alles, was nach dem Tod des Vaters geblieben war, an die Armen verschenkt hatte.

 

Madeleine ist die beste Pflanzenmalerin von Paris, zehn Jahre nach dieser ersten Begegnung mit Marie wird sie schreiben:

 

"Ich bin vierundvierzig Jahre alt. Seit vierzig Jahren zeichne ich hinauf und hinab die Flora und alles, was ihr anhängen mag, bis hin zum geringsten Würmchen. Das Bild kommt in meine Augen hinein und fließt aus der Hand aufs Papier.

Es nimmt keinen Umweg über mein Gemüt. Es wird nicht verzerrt durch weibliche Grillen. Dennoch, seit ich Haupt-zeichnerin bin, erstellte ich nie ein Blatt, das der Intendant nicht überprüfte. Er kommt mindestens zweimal die Woche herein, schaut alles durch, sagt `schön, schön´ und setzt seinen Namen hinzu. Er setzte seinen Namen niemals hinzu bei Monsieur Aubriet (Madeleines Vorgänger). Monsieur Aubriet war ein Greis, der nicht sah und kaum stehen konnte. Ich zeichnete, als man mich seine Schülerin nannte, jahrelang seine Sachen. Da schreib er dann `Aubriet´ darauf. Jetzt schreibt der Intendant `Leclerc´ darauf. Es ist dies unbillig und eine Schikane. ..."

 

Christine Wunnicke zeichnet die Geschichten und die gemeinsame Geschichte Maries und Madeleines nach, mit Sprüngen in der Chronologie vor und zurück. Man sieht sie als Suchende und als erfolgreiche Künstlerinnen, beide Meisterinnen, beide lebenslang konfrontiert mit dem ungünstigen Umstand, als Frau zur Welt gekommen zu sein.

 

"Die Fürsorge, sagt man, ist uns Frauen eingeboren. Das Reine. Das Nette. Blicken wir Leichen in ihren Bauch, sehen wir nur Pastellton und lauter Bordüren. Darum dürfen wir mit Namen nicht zeichnen und bekommen nur das halbe Gehalt", so Madeleine in einem fiktiven Brief an den Natur-forscher Linné. 

Immerhin wurde sie offizielle Pflanzenmalerin des Jardin du Roi, auch außerhalb verkaufte sie ihre Werke gut.

 

Und Marie verlegte sich auf Wachs: "So entschied sie, sich auf die künstliche Anatomie zu werfen." Sie bildete Körperteile, Organe, Därme, Sehnen, Muskeln, schwangere Frauen etc. in Wachs nach, stellte sie aus, verkaufte sie und unterrichtete Mädchen in Anatomie. So konnte sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, ihren Beinamen "die Schnitterin" kann man so oder so interpretieren.

 

Und die Liebe? Madeleine ist die erste, die in Maries Kammer darf, in der sie ihre Leichen seziert. Dort, auf einer schmalen Chaiselongue fragt Marie nur "Darf ich?"

"Das geht nicht an, dachte sie, was ist das, was soll das werden? Sie könnte doch ihre Tochter sein! Sie stürzt sich auf alles mit Raserei, seien es Leichen, sei es diese atmende Frau, die dort auf dem Möbel sitzt und nicht weiß, wie ihr geschieht. Wer hat das Mädchen solches gelehrt? ..."

 

Sie werden ganz offen ein Paar, bleiben dies bis zum Tod Madeleines, die 1780 mit knapp achtzig Jahren stirbt.

Die zwanzig Jahre jüngere Marie verbringt ihre letzten Jahre in einem Gartenhaus, umsorgt von Edmé, einem Jungen ungeklärter Herkunft, der im zarten Alter von sechs Jahren in ihren Dienst tritt.

 

Der Diener Edmé ist eine von wenigen Nebenfiguren, er ist die am genauesten gezeichnete. Sein Porträt ist zugleich eine Sozialstudie, es bezieht seine (Zieh)Familie mit ein und die Umstände unter der sie lebt.

Edmé ist nicht mit großen Geistesgaben gesegnet, aber er hat ein gutes Herz und liebt Marie grenzenlos. Das versteht sie selbst nicht, sie hat sich zu einer unguten Alten entwickelt, seitdem sie nicht mehr arbeiten kann. Aber sie rafft sich noch einmal auf, schafft es nach viereinhalb Jahren, ihr Bett zu verlassen, und lehrt den Intendanten des Jardin du Roi das Fürchten ....

Dieser Mann ist auch der Autor des allseits beliebten Romans "Paul et Virginie", den Marie aufgrund des dort propagierten Frauenbildes vollkommen unerträglich findet. Sie ist der Meinung, dass Buch und Urheber unter das "Hackebeil" gehören.

 

Dies ist eine kleine Geschichte innerhalb des Romans, eine von vielen Episoden, die ihm noch mehr Farbe und Strahlkraft verleihen.

Er ist so plastisch, jedes Kapitel, das entweder Marie oder Madeleine in den Mittelpunkt stellt und zu einer anderen Zeit spielt, dass vor den Augen der Lesenden ein Film oder Theaterstück entsteht, in dessen Hintergrund das neue Frankreich während und nach der Revolution dargestellt wird. Die zunehmende Anzahl an Leichen in Paris dürfte nicht daran liegen, dass Marie nicht mehr arbeitet, wie Edmé vermutet.

 

Der Roman folgt in "vielen Details den historischen Quellen", doch sehr vieles ist erfunden, schreibt Christine Wunnicke in ihrer Nachbemerkung. Sie hat phantastisch gut erfunden, die Lektüre ist ein einziges Vergnügen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Christine Wunnicke: Wachs

Berenberg Verlag, 2025, 192 Seiten