Sofia Yablonska - China, das Land von Reis und Opium

"Ich war nach China gekommen, um die Chinesen zu sehen, um ihr Leben, ihre Gewohnheiten, ihre Kunst und ihren Glauben kennenzulernen." Die 1907 in Galizien geborene Schriftstellerin und Fotografin war eine offene, mutige, abenteuerlustige und manchmal auch naive Reisende. Eine erste große Tour hatte die mit zwanzig Jahren nach Paris Übersiedelte im Jahr 1927 nach Marokko geführt, Zeugnis dieses Abenteuers legt sie in ihrem ersten Travelogue "Der Charme von Marokko" ab. War diese Reise in eine französische Kolonie noch eine relativ sichere Angelegenheit, war ihre Asienreise ein Trip in einen damals völlig fremden Teil der Welt, zumal sie sich nicht in den gesicherten Orten aufhielt, sondern "die erste weiße Frau (war), die sich traut, allein in einem chinesischen Stadtviertel zu wohnen."

 

1932 bricht sie von Indochina aus auf. Mit dem Zug fährt sie nach Yunnan - diese Fahrt ist auch der Einstieg in ihre Reisebeschreibung, die sofort ins Herzen der chinesischen Mentalität und in Yablonskas Art, mit den Schwierigkeiten des Reisens umzugehen, führt. Denn zunächst muss ein Zoll-beamter von der Harmlosigkeit "zweier Schachteln Abführ-kapseln" überzeugt werden. Sie löst dieses Problem ohne Angst, mit Humor und Feingefühl. 

 

In Yunnan angekommen, begibt sie sich sogleich entgegen aller Warnungen auf einen "ersten Streifzug durch die Stadt".

Sie wird verfolgt, beschimpft, mit Steinen beworfen, schließ-lich von bewaffneten Soldaten zurück in ihr Hotel begleitet.

Ihr Fazit: "An meinem ersten Tag in Yunnan, das als Land der Banditen verschrien war, verhielt ich mich trotz meiner Erfahrungen viel zu naiv."

 

In ihrem Travelogue, einer Vereinigung von Reisebericht, Tagebuch und Essay, versucht Sofia Yablonska, all ihre Eindrücke vorurteilsfrei darzustellen. In 20 Kapiteln notiert sie die verschiedensten Erfahrungen und Reflexionen zu all dem, was sie um sich herum beobachtet. Sie beschreibt ihre Übernachtungen in zweifelhaften Hotels oder bei eben-solchen Mönchen, sie besucht Aufführungen des traditio-nellen chinesischen Theaters, gerät durch überhebliches Benehmen eines Belgiers in große Gefahr. Sie erlebt den Verkauf eines Kindes, denn lieber gibt eine Mutter ihr Kind her, als es dem Hungertod auszusetzen. Sie sieht eine die "weißen Teufel" verfluchende Bettlerin, sie tragen die Schuld am Tod ihres Sohnes. Bei einer Überschwemmung der Stadt fährt sie mit einem Boot umher, um das Ausmaß der Verwüstung zu erfassen. Armut und Tod sind allgegenwärtig.

 

In dem Kapitel "Auf dem Platz der Todesurteile" gibt sie ein Gespräch wieder, das sie mit einem Alten über Todesstrafe und Hinrichtungen führte. Dieser sagt:

 

"Früher wurde der Todeskandidat mit einem schweren Holzjoch und unter Trommelwirbel durch die Stadt getrieben. Das war etwas ganz Anderes (als die heutigen Er-schießungen). Die Menschen säumten die Straßen und durften sich in gewisser Weise an der Exekution beteiligen. ... sie blieben, bis die Zeremonie zu Ende war."

 

Später erlebt sie doch noch eine Hinrichtung nach traditio-neller Art mit, der Verurteilte wird langsam zu Tode gefoltert.

Dieses Erlebnis lässt sie völlig niedergeschlagen zurück:

"Ich musste einmal mehr feststellen, wie abgrundtief verschieden wir waren. Ich war noch nicht einmal in der Lage, sie zu verstehen. Wir lebten in zwei verschiedenen Welten, die Jahrhunderte, unterschiedliche Traditionen und Ansichten, das Klima, selbst die Hautfarbe, ja einfach alles trennten."

 

Immer wieder thematisiert sie die "europäische Empfind-samkeit", die "europäischen Prinzipien", die "Eile", denen die Traditionen, der Fatalismus, die duldsame "asiatische Seele" gegenüberstehen.

 

Vor ihrer "Geduld, Ausdauer und Geschicklichkeit", mit der die Chinesen ihre Landwirtschaft betreiben, hat sie dagegen allergrößten Respekt. Ganz genau beschreibt sie die Anlage der Felder, der Bewässerungskanäle, der Art zu Düngen, die mehrfachen Ernten.

 

Hier zeigt sich die in der Ukraine aufgewachsene Schrift-stellerin, die in diesen Beschreibungen auch ihre Sehnsucht nach der alten Heimat ausdrückt.

Und die, wie die Chinesen ihre Not, ihre Einsamkeit in der fremden und oft feindlichen Welt mit Opium bekämpft.

 

"Da die Felder hier zweimal im Jahr bestellt werden, kommt gleich nach der Reisernte der Mohn - fürs Opium. ... Der Mohn wächst von selbst, Gott lässt ihn gedeihen. ... Die Chinesen arbeiten also in der erste Jahreshälfte für den Reis und in der zweiten für den Genuss - um ihre Not zu vergessen."

Ein Arzt, der die Bekämpfung der Sucht aufgegeben hat, erzählt ihr, "eher könne man den Chinesen den Reis nehmen, dann bliebe ihnen immer noch das Opium, aber nähme man ihnen das Opium, hätten sie gar nichts mehr..."

 

Im letzten Kapitel, "Opium und Einsamkeit", in dem sie freimütig von ihrem Weg in die Sucht berichtet, fasst sie ganz konzentriert die unterschiedlichen Lebensweisen, Ansichten und Philosophien von Europäern und Chinesen zusammen. Ein weiteres Mal wählt sie hierfür die Form eines Gesprächs, diesmal mit dem alten Quo, der sie in die Welt des Opiums einführte.

Der poetischste Teil ist jedoch die Wiedergabe einer Vision, die sie während eines Rauschs erlebte:

 

"Am meisten liebte ich das Opium dafür, dass es in mir - echte, aber bislang verborgene - Erinnerungen an meine Kindheit weckte."

 

Sie wird das Abschiedsgeschenk Quos nicht mitnehmen, ein Dominospiel, in dem "die Verführung Asiens" versteckt ist.

"In Europa würde daraus ein echtes Gift und Verbrechen werden."

 

 

Sofia Yablonska reiste im Auftrag einer französischen Film-gesellschaft. Sie richtet den genauen Blick der Fotografin auf ihre Umgebung, begibt sich mitunter in Lebensgefahr für eine Aufnahme.

Viele dieser Fotos sind im vorliegenden Buch abgedruckt, sie geben eine Vorstellung von den harten Lebensbedingungen, aber auch der Schönheit des Landes.

 

Von Leiden und Schönheit erzählt Yablonskas mit großem Können geschriebenes Werk, das durch seinen flüssigen Stil, den Mut und Scharfsinn der Autorin, durch ihr Einlassen auf die fremde Welt und nicht zuletzt durch ihren trickreichen Humor begeistert. 

Dieser tritt vor allem in den Passagen zutage, in denen sie von den Banditen erzählt. Sie üben eine besondere Faszina-tion auf sie aus, kristallisieren sich doch in ihnen einige der chinesischen Besonderheiten deutlich heraus. 

 

Seinen einführenden Essay betitelt Juri Andruchowytsch mit "Die Heldin des Banditen-Romans". Auch als einen solchen kann man das Buch lesen, ebenso als ein "markantes Zeugnis der damaligen (1920er-1930er Jahre) ukrainischen Literatur-sprache in Galizien." Sie schrieb ihre Bücher auf ukrainisch, ganz wunderbar ins Deutsche übertragen hat sie Claudia Dathe. Im Nachwort geht Olena Haleta auf das Leben, die Entwicklung der Werke und die Bedeutung Yablonskas für die (ukrainische) Literatur ein. Sie nennt die Reise einen "Weg der Vergegenwärtigung, nicht der Selbstbestätigung."

 

Diese Vergegenwärtigung zeichnet die große Reisende Sofia Yablonska aus. Sie reist, um zu lernen, nicht um Vorurteile bestätigt zu finden, und auch nicht, um sich selbst zu finden.

Auch wenn sie immer wieder das Gesehene in dem spiegelt, das sie aus ihrer Heimat kennt und ihre Entwicklung in ihrem Schreiben reflektiert.

 

"Wenn ich meine ganzen noch frischen Erlebnisse Revue passieren lasse, muss ich mich wirklich wundern, dass mich in dieser harten Realität, die lauter Gefahren und Erschöp-fung birgt, mein Reisefieber noch nicht verlassen hat. Im Gegenteil: alle Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten und Wider-stände machen mein Verlangen nur noch größer. Auf meinen Reisen von einem Land ins andere habe ich nie das erträumte Paradies gefunden. Dafür erhasche ich immerhin da und dort in der Ferne ein paar Funken irdisches Glück, die viel kostbarer sind als alle eingebildeten Paradiese. Und so mache ich mich immer wieder auf den Weg..."

 

 

Sofia Yablonska verstarb 1971 bei einem Autounfall in Frankreich, wo sie nach langen Jahren in Asien mit ihrem Mann und drei Söhnen lebte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sofia Yablonska: China, das Land von Reis und Opium

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Mit einem vorangestellten Essay von Juri Andruchowytsch

und einem Nachwort von Olena Haleta

Herausgegeben von Roksolana Sviato

Kupido Literaturverlag, 2023, 224 Seiten mit zahlreichen Abbildungen