Elen Fern - Wenn die Welse kommen

In einer untergegangenen Stadt leben noch Menschen in den oberen Etagen von Hochhäusern. Zwischen diesen bewegt man sich mit Booten - man hat sich eingerichtet in einer Welt nach der großen Katastrophe. Doch die Hoff-nung, dass das Wasser eines Tages wieder verschwinden wird, lebt.

Wie könnte man dieses eingeschränkte und von Angst begleitete Leben sonst ertragen?

 

Angst verbreiten vor allem die Welse, die in unregelmäßigen Abständen in die Stadt kommen. Denn: "Die Welse haben es auf Kinder abgesehen." Die Stadtverwaltung verhängt in diesen Tagen eine "Ausgangssperre. Alle Aktivitäten draußen sind dann verboten."

 

Die Stadtvorsteherin, Colombe, Mutter etwa zehnjähriger Zwillinge, heuert die beiden Taucher Boris und Salomon an. Diese tauchen normalerweise nach Schätzen, die sie auch hier, in der an Genf erinnernden Stadt, in der Boris seine Kindheit verbrachte, zu finden hoffen. Doch nun sollen sie Röhren heraufholen, in denen sich alte Pläne befinden.

Wie sah die Stadt vor ihrem Untergang aus? Wo lässt sich anknüpfen, wenn das Wasser geht?

 

Beim ersten Tauchgang verliert Boris einen Tauchschuh. Unvermutet ist er wieder da, er steht auf der Terrasse des Hotels, in dem die beiden wohnen. "Plötzlich erkennen sie kleine Schatten, die flirrend wie Irrlichter über die Rettungs-treppe verschwinden. Die Hände voller Werkzeuge."

Boris nimmt sofort die Verfolgung auf und begibt sich damit in unbekanntes Gelände. Dort trifft er auf eine Bande von gut zwanzig Kindern, die ihn einkreisen und feindselig betrachten. Er kann sie vorerst damit beruhigen, dass er auf eine Tafel zeichnet und so ihr Vertrauen gewinnt.

 

Mit diesen Kindern, die halb zu Wasserwesen mutiert sind, zieht eine phantastische Ebene in den Roman ein. Sie sind völlig autonom, anarchistisch, agieren im Verborgenen - und schwimmen mit den Welsen, die anscheinend Kinder töten.

 

"Die Stadt gehört uns, gehört uns!"

 

Es stehen sich die Erwachsenen, die Ordnungsmacht, die auf die Wiederherstellung der alten Realität hoffen, und die, die sich an die veränderte Welt angepasst haben, gegenüber.

Während die Verwaltung "Korallenräte" abhält, bei denen der "Glaube an die Zukunft" zelebriert wird, haben sich die anderen neue Lebensmöglichkeiten geschaffen.

 

Nach Boris erfährt auch Salomon, dass die Welse nicht gefährlich sind. Sie wurden als Mittel benutzt, den Menschen Angst zu machen. Boris sagt zu Colombe:

 

"Du sagst, die Angst sei unweigerlich mit der Hoffnung verbunden, sie helfe euch, voranzukommen. Aber seit Jahrzehnten stecken alle darin fest! Das ist nicht mehr nötig und war es auch nie.  ... Wir können so viele Röhren hoch-holen, wie du willst: Es ist nicht mehr dieselbe Welt.

`Im Grunde weißt du doch auch, dass das Wasser nicht mehr abfließt, oder?´ ... Aber noch ist nicht alles verloren: Es gibt eine Möglichkeit. Neu anfangen. Hier."

 

Angst und Brutalität (in einer eindrücklichen Szene wird ein gestrandeter Wels brutal erschlagen) als Kehrseite der Hoffnung und als Blockade eines Neuanfangs, um diesen Themenkreis dreht sich der Roman. Das Autorenkollektiv bearbeitet es auf sehr ungewöhnliche Weise, indem es die Anarchie, das radikal Neue, auf spielerische und zugleich kämpferische Art einflicht, indem es das Undenkbare als das Rettende darstellt.

Mit der Hoffnung die Angst aufgeben, "dann kann die Stadt zusammen mit der Natur wieder neu entstehen, in Gemein-schaft mit den Fischen", ist ein zentraler Gedanke.

 

Auch die Zwillinge Colombes haben sich den Wasserkindern angeschlossen:

"Wir erklären es ihnen ganz ruhig: Wir planen nicht mehr. Wir reglementieren nicht mehr. Das ist vorbei. Wir leben, das reicht. Auch wenn es manchmal Angst macht. Alles andere wurde schon versucht, es funktioniert nicht."

 

Die Kinder treten immer als Kollektiv auf, jeder Abschnitt, in dem sie zu Wort kommen, beginnt mit einem "Wir".

Sie verstehen sich als Einheit, ein Individuum könnte in ihrer Welt nicht überleben.

 

Man mag den Aussagen dieses Romans zustimmen oder nicht, auf jeden Fall ist er ein interessantes Gedankenexperi-ment, das aus verschiedenen Perspektiven auf die Vergan-genheit und in die Zukunft schaut. Diese Zukunft sind die Kinder, ihnen zur Seite stehen die beiden Männer, die gelernt haben, mit den Welsen zu schwimmen. Die aber auch bereit sind, zu zerstören.

 

 

Der Roman ist Teil eines Forschungsprojekts, das der Frage "Können Geschichten bei der Stadtplanung helfen?" nachgeht. Der Schriftsteller Charles Robinson "beantwortete diese rhetorische Frage mit einigen Hypothesen, die Geschichten eine gewisse städtebauliche Wirkmacht zuge-stehen. Eine Geschichte könne "die Realität erneuern", könne ihr "neuen Zauber verleihen", könne "Werte" erschaffen und letztlich die Möglichkeit eines anderen Lebens aufzeigen.

Wenn die Welse kommen erfüllt diese vier Funktionen entweder ganz oder teilweise. Der Roman versetzt die Leser*innen in ein zukünftiges Genf und hinterfragt damit unser gegenwärtiges Leben." So im Nachwort.

 

Das klingt recht theoretisch, doch die Geschichte ist kein Thesenroman. Hier wird plastisch, anschaulich und lebendig  erzählt, eine Spannung aufgebaut, Widersprüchliches stehen gelassen, die Realität mit der Phantasie konfrontiert.

Die vier Autoren Matthieu Ruf, Aude Seigne, Anne-Sophie Subilia und Daniel Vuataz schaffen eine realistische Atmos-phäre voller Magie - und Fragen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Elen Fern: Wenn die Welse kommen

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Andreas Jandl

Kommode Verlag, 2025, 160 Seiten