Milena Michiko Flasar - Oben Erde, unten Himmel

"Wenn der Himmel unten wäre und die Erde oben, dann würden wir auf Wolken gehen." Dieser Gedanke Suzus, fünfundzwanzig, ehemalige Studentin, ehemalige Aushilfskellnerin, nun eine ganz spezielle Reinigungskraft, steht am Ende des Romans. Er kommt ihr nach einem Gespräch mit ihren hoch-betagten Nachbarn. Herr Fuji sprach davon, einst "da oben" zu sein, doch seine Frau sagte: "Da unten, meinst du wohl. ... `Ist doch das Gleiche! ... Himmel und Erde treffen einander. Ergo gehören sie zusammen. Sie sind austauschbar.´"

 

Der Roman über Erde und Himmel, über das richtige, passende Leben und einen würdigen Tod, erzählt von der sehr zurückgezogen lebenden Suzu.

Sie verließ das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, als sie mit dem Studium begann. Alleine, fast alleine, lebt sie in einer kleinen Wohnung in einem anonymen Haus, nur die Fujis sieht sie ab und zu. Der einzige, der ihr Gesellschaft leistet, ist Punsuke: "Punsuke war eben der wichtigste Mensch für mich. Na ja, Mensch war vielleicht das falsche Wort. Ich hatte ihn lediglich mit menschlichen Zügen ausgestattet ..."

Punsuke ist ein Hamster.

 

Ihre Arbeit als Kellnerin verliert sie, weil der Chef ihr "mangelnden Liebreiz" vorwirft, am besten, sie suche sich eine Arbeit, bei der sie so wenig wie möglich mit Menschen zu tun hätte, rät er ihr.

Suzu bewirbt sich bei Herrn Sakai als Reinigungskraft,

ohne genau zu wissen, was für eine Stelle das ist.

Wie sich herausstellt, handelt es sich um die Reinigung von Leichenfundorten, kein normaler Job also, hierfür braucht es starke Nerven, eine gute Kondition und noch sehr viel mehr. 

 

Die Arbeit mit den Toten führt Suzu mitten hinein ins Leben. Nicht nur, dass sie plötzlich Kollegen und einen Chef hat, mit denen sie die emotionalsten Momente teilt, sie betritt die Wohnungen der verschiedensten Menschen, räumt diese aus, sie dringt in deren Intimsphäre ein. 

Da sind nicht nur die umwerfenden Gerüche, die verkraftet werden wollen, da sind auch die Geschichten derer, die manchmal seit langer Zeit unentdeckt in ihren Wohnungen lagen, niemand hatte sie vermisst.

 

`Kodokushi´  nennt man sie in Japan, es ist ein trauriges Phänomen, das so häufig vorkommt, dass ein Wort dafür geprägt wurde. 

Oft sind es alte Menschen, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben. Aber auch junge Leute, einmal wird die Firma zu einer Zwanzigjährigen gerufen. Das Schicksal dieser Frau, die Suzus jüngere Schwester hätte sein können, berührt sie sehr. Hier fordert Herr Sakai sie zum ersten Mal auf, das "Begrüßungsritual" zu übernehmen.

Er verlangt einen würdevollen Umgang mit den Leichen, begrüßt sie, wenn er eine Wohnung betritt.

 

Herr Sakai ist überhaupt ein ganz besonderer Mensch.

Nachdem Suzu schon länger für ihn arbeitet, erzählt er ihr, wie er zu seiner Firma kam. Das war kein gerader Weg.

Er lädt sie immer wieder zum Essen und auch zu einem Hanami-Picknick ein, lockt Suzu unter Menschen. Er plant einen Betriebsausflug, aus dem zwar nichts wird, wichtig war es jedoch, davon zu träumen. Er sorgt auch dafür, dass sie sich um den kranken Takada, der zusammen mit Suzu angefangen hat, für Herrn Sakai zu arbeiten, kümmert.

Er ist  eine ebenso einsame Seele ist wie Suzu, auch er verändert sich im Lauf der Zeit. 

 

Chef und Kollegen sind ein Grund, die Begegnung mit dem Tod ein weiterer, aus dem sich Suzu dem Leben zuwendet.

Sie, die selbst eine Kodokusha hätte werden können, öffnet sich langsam, aber Schritt für Schritt anderen Menschen, fängt an, sich für sie zu interessieren.

 

Worum geht es bei ihrer Arbeit?

"Darum, etwas für einen Fremden zu tun, was man sonst nur für die eigene Familie tut", so Suzu. Herr Sakai entgegnet:

"So kann man es auch sehen. Ich persönlich bevorzuge folgende Variante: Es geht darum, etwas für einen Toten zu tun, was man sonst nur für einen Lebenden tut. ...

Schon komisch, dass wir Menschen immer in Gegensätzen denken! Hier das Leben. Dort der Tod. Als ob wir es nicht aushielten, dass beides zusammengehört. Klar, der Gegensatz liegt auf der Hand. Man atmet. Oder man atmet nicht. Aber ist das Nichtatmen nicht Teil des Atmens? Darin enthalten? ... "

 

Sie begreift, "wie eng das eine mit dem anderen verwoben war. Eine saubere Trennlinie gab es nicht."

 

Das eine - die Erde, das Leben, das andere - der Himmel, das Sterben. 

 

Milena Michiko Flasar setzte sich in ihrem ersten Roman,

"Ich nannte ihn Krawatte", mit dem Phänomen des `Hikikomori´ auseinander. Das sind Menschen, die sich völlig zurückziehen, keinen Kontakt mit der Welt mehr wollen.

In ihrem zweiten Buch wandte sie sich ebenfalls einem Mann zu, dessen Leben einsam geworden war: "Herr Kato spielt Familie". Und nun den Kodokushi.

 

Allen Büchern ist gemein, dass Milena Michiko Flasar einen Ton findet, der weder zu schwer ist, noch in den Kitsch abgleitet. Sie zeichnet ihre Figuren mit größter Empathie,

ihre Entwicklung ist nachvollziehbar und sie verfügt über einen  warmherzigen Humor.

Z.B. bei der Begegnung Suzus mit ihrem Vater nach langer Zeit:

"Was sollte dieses Lächeln? ... Wollte er mich etwa umarmen? Er neigte doch sonst nicht zu Sentimentalitäten. War das eine Träne in seinem Augenwinkel? So alt konnte er nicht geworden sein!"

 

Suzu, die mit Takada zusammen Abschied von Herrn Sakai nimmt, die nun ihre alten Nachbarn dann und wann besucht, resümiert:

"Ich war Teil eines Netzwerkes. Ich war an einem Punkt angekommen, von dem aus es weiterging."

 

 

Sie sind alle ein bisschen schräg, die Figuren in dieser Geschichte. Aber sie sind lebendig, reflektiert, sympathisch und wandlungsfähig. 

Milena Michiko Flasar, geb. 1980, kleidet ein großes Thema in einen leichtfüßigen, völlig unpathetischen Roman.

Am Ende der Lektüre stellt man sich die Frage: Kann ein Roman, der sich mit Sterben und Tod beschäftigt, der im Milieu der "Leichenfundortreiniger" spielt, heiter und unterhaltsam sein? Erstaunlicherweise kann er das!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Milena Michiko Flasar: Oben Erde, unten Himmel

Verlag Klaus Wagenbach, 2023, 304 Seiten