James Baldwin - Beale Street Blues

In seinem großen, an die eigene Biographie angelegten, Roman "Von dieser Welt" aus dem Jahr 1953 steht der vierzehnjährige John im Mittelpunkt.

Religion und der Kampf mit dem Vater sind die tragenden Themen, eingebettet in die Geschichte und Situation der Schwarzen im Amerika.

Der im New York der fünfziger Jahre spielende Roman"Beale Street Blues" erschien 1974, hier geht es um Liebe und Sexualität, Familie und Freundschaft, um Gewalt, Machtstrukturen und um die amerikanische Justiz, vertreten durch Officer Bell.

 

Clementine Rivers, von jedermann Tish genannt, neunzehn Jahre alt, Parfumverkäuferin in einem Kaufhaus, das sich damit einen fortschrittlichen Anstrich gibt, ist die Ich-Erzählerin dieses Romans. Sie erzählt von ihrer Familie und von ihrer großen Liebe Fonny, eigentlich Alonzo Hunt, zweiundzwanzig. Er arbeitet in diversen Jobs, sein Traum ist es, Künstler zu werden, bzw. von seinen Holz- und Steinskulpturen leben zu können. Die beiden hatte gerade einen alten Speicher gefunden, wo sie wohnen und arbeiten wollten.

 

Tish und Fonny kennen sich seit Kindertagen. Beginn ihrer Freundschaft ist eine Rauferei, auf die ein Friedensangebot folgt "-ich wurde seine kleine Schwester, und er wurde mein großer Bruder. Er mochte seine richtigen Schwestern nicht, und ich hatte keine Brüder. Und so wurden wir füreinander das, was dem anderen fehlte."

 

Fonnys Mutter ist "eine Geheiligte": sie ist sehr religiös, aber von einer Art, die weniger auf Liebe als vielmehr auf Macht gegründet ist. Seinen Schwestern bleibt kein Raum, sich zu entfalten, die Mutter wacht über die beiden Mädchen mit eiserner Hand. Fonny weiß, dass seine Mutter ihn nicht besonders schätzt, weil er viel zu eigensinnig ist. Aber er weiß sich von seinem Vater Frank geliebt und unterstützt - auch Frank ist ein Außenseiter in der eigenen Familie.

 

Tish hingegen wird von ihren Eltern Sharon und Joseph geliebt. Sie stehen fest hinter ihr und unterstützen sie nach Kräften. Ihre ältere Schwester Ernestine ebenfalls - mittlerweile, die Kinderkämpfe sind vorbei.

 

In der Zeichnung dieser beiden Familien entwirft Baldwin bereits ein komplettes Gesellschaftsporträt. 

Verschiedene Glaubensgemeinschaften bzw. Arten, Religion auszuüben (im Falle der Rivers beschränkt sich diese auf einen Kirchenbesuch an Weihnachten, sie wissen aber sehr genau, was Solidarität ist), werden thematisiert, außerdem die Wertschätzung des Einzelnen, der Umgang miteinander und mit Schwierigkeiten, all die vielen Anspielungen, die in einem Gespräch fallen können, und die sehr tief in die Seele des Sprechers blicken lassen, die Herkunft aus der selben Geschichte und Schicht, das Erbe der Schwarzen, das in jedem wohnt, aber nicht automatisch bedeutet, dass diese Menschen einander verstehen und verteidigen - und mitten darin die Liebe Tishs und Fonnys.

 

Der Leser lernt die beiden jungen Leute kennen, als Tish ihren Geliebten im Gefängnis besucht. Und ihm mitteilt,

dass sie schwanger ist. Sie weiß genau, in welcher Nacht das Kind entstand, es war ganz kurz vor der Verhaftung Fonnys.

 

In diesem Moment, als Tish ihm die Neuigkeit erzählt, rast eine ganze Welt durch Fonnys Kopf. Freude, Angst, noch mehr Freude, Ungläubigkeit, die Frage, wie das gehen soll und natürlich der Gedanke: Wird er bis dahin hier raus sein?

 

Noch überwiegt die Zuversicht. Denn jeder weiß, dass Fonny unschuldig ist. Er hat Mrs. Rogers, eine junge Frau aus Puerto Rico, nicht vergewaltigt. Das ist ein Irrtum.

Ernestine hat einen Anwalt besorgt, Mr. Hayward wird sich darum kümmern. Das Geld für ihn werden sie auftreiben. 

 

Der Leser lernt ein kleines Stückchen des Gefängnislebens kennen (es ist immer wieder von Vergewaltigungen die Rede) und er lernt im Lauf des Romans, der zwischen der Gegen-wart und Rückblenden in die Vergangenheit mäandert, sehr viel über die amerikanische Justiz.

 

Zeugenbeeinflussung, Gegenüberstellungen und Identifika-tionen, die diesen Namen nicht verdienen, offensichtliche Falschaussagen eines Officers, Geschworene, die von vorn herein einen Schwarzen verurteilen, das Problem, Geld

für den Anwalt und sogar eine Reise nach Puerto Rico zu beschaffen, um die Klägerin dort aufzuspüren und zu überzeugen, dass auch sie nur benutzt wurde. Diese Reise übernimmt Sharon, Tishs Mutter. Sie bringt einen weiteren Aspekt in den Roman, die Latinos, eine andere ungeliebte Minderheit. 

 

In Officer Bell wird "der weiße Mann" charakterisiert:

"Er hatte einen Gang wie John Wayne, breitbeinig unterwegs, um das Universum aufzuräumen, und den ganzen Scheiß glaubte er auch noch: ein boshafter, dummer, kindischer Dreckskerl. ... Wenn man fest in dieses ungerührte Blau (seiner Augen) guckt, in diese Nadelspitze in der Mitte vom Auge, entdeckt man bodenlose Grausamkeit, eine kalte, eisige Bösartigkeit.  ... Diese Augen blicken nur in die Augen von besiegten Opfern. In andere Augen können sie nicht blicken. ... Ich mach dich fertig, Junge, haben Bells Augen gesagt...."

 

Der Verhaftung Fonnys vorausgegangen war ein Zusammen-stoß mit Bell in einem Gemüseladen.  Aus diesem ging Bell als Verlierer hervor: vorgeführt von einer "italienischen Lady", der Besitzerin des Ladens, die dafür gesorgt hatte,

dass Bell Fonny nicht festnehmen konnte.

 

"Der wird noch versuchen, mich dranzukriegen. - Wie denn? Du hast doch gar nichts gemacht. Das hat die italienische Lady gesagt, und sie hat auch gesagt, das würde sie unter Eid wiederholen. - Genau darum wird er ja versuchen, mich dranzukriegen. Weiße Männer haben es gar nicht gern, wenn eine weiße Lady ihnen sagt, ihr seid ein Haufen Arschlöcher, und der schwarze Typ hat recht, und leck mich am Arsch. ... Weil genau das hat sie ihm gesagt. Vor allen Leuten. Und er konnte überhaupt nichts machen. Das vergisst der nicht."

 

Ganz klar zeigt Baldwin die Hierarchien auf, die die Gesellschaft prägen. Als Ire ist Bell ein Amerikaner zweiter Klasse, er muss sich beweisen. Dafür bieten sich natürlich die Afroamerikaner an. Diese sind ihrerseits nicht vor Antisemi-tismus gefeit, der sich durch alle Ethnien zieht. 

Baldwin fächert in seinem Roman auf, wie Rassismus die Menschen besetzt und wie er das Leben aller prägt.

 

Der Roman "Beale Street Blues" spiegelt alle diese vielen Ebenen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt und er findet dafür einen anderen Ton als in "Von dieser Welt".

Herrschte dort der Sound eines Kirchenliedes, ist die Sprache hier sehr jung, weltlich, direkt.

Die jungen Menschen haben schon fast zu viel von der Welt verstanden, fast schon erstaunt die Hoffnung, die sich immer wieder durchsetzt.

 

Ein wesentliches Merkmal des Blues ist, in allem Leid noch etwas Schönes zu finden, in der Trostlosigkeit die Hoffnung.

Das ist in diesem "Beale Steet Blues" die Liebe.

Die zwischen Tish und Fonny, die zu ihrem ungeborenen Kind, die Liebe der Eltern zu den Kindern, die Verbundenheit von Frank und Joseph - der unheimlich realistische Roman über das Versagen einer freien Nation spricht zugleich über die Solidarität und Freundschaft zwischen den Menschen.

 

 

"Jeder in Amerika geborene Schwarze ist in der Beale Street geboren. Die Beale Street ist unser Erbe. ..." sagte Baldwin in einem Interview.

 

 

Thematisch ist der Roman so verstörend aktuell wie realistisch. Zur Aktualität gehört aber auch der kunstvolle Aufbau, die unverwechselbare Sprache, der tiefe Blick in

die Seele seiner Helden, die genaue Zeichnung der Lebensumstände - Baldwins Romane erleben zur Zeit eine Renaissance, die mehr als überfällig ist.

 

"Aus der Unordnung, die das Leben ist, jene Ordnung zu schaffen, die Kunst heißt - das ist die Aufgabe jedes Schriftstellers", so Baldwin in einer Notiz.  

Dies führt er in seinem Roman "Beale Street Blues" vor Augen, und nicht nur in diesem.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

James Baldwin: Beale Street Blues

Übersetzt von Miriam Mandelkow

dtv Hardcover, 2018, 224 Seiten

(Originalausgabe 1974)