James Baldwin - Ein anderes Land

"`Ich würde ihr gern beweisen - irgendwann, ... würde ich ihr gern zeigen, dass die Welt nicht so schwarz ist, wie sie glaubt.´ `Oder, ... so weiß.´"

Dieser kleine, mehrdeutige Dialog zwischen Vivaldo und Cass führt ins Herz des Romans von James Baldwin.

Die Problematik schwarz-weiß in ihren unendlich vielen Ausprägungsformen ist das zugrunde liegende Thema der Geschichte um den schwarzen Musiker Rufus Scott.

 

Der einst erfolgreiche Rufus stürzt sich mit Ende zwanzig von einer Brücke in den Tod. Zuvor war er mehrere Wochen durch New York gestreift, ohne Heimat, ohne einen Anker.

Er hatte eine hochproblematische Beziehung mit Leona, einer weißen Frau aus dem Süden der USA, hinter sich. Geprägt von Liebe und Hass, intensiven Gefühlen, Missverständnissen und Gewalt.

 

Zerbrochen war er nicht nur an dieser Beziehung, sondern mehr noch an der bis ins Innerste rassistischen Gesellschaft.

Von der Polizei bis zu den weißen Männern an der Straßen-ecke oder in der U-Bahn, namenlosen Passanten, deren Blicke verraten, was sie von Schwarzen halten, bis hin zu einem geliebten Menschen, der ihn nicht verstehen kann, wird Rufus immer wieder darauf zurückgeworfen, dass der Wert eines Menschen an seiner Hautfarbe gemessen wird.

 

"`Rufus´, hatte Leona gesagt, immer wieder, `da ist doch nichts bei, ein Farbiger zu sein.´" Diese naive Aussage Leonas lässt endgültig etwas in Rufus zerbrechen.

Sie steht zugleich sinnbildlich für James Baldwins Kunst, in kleine, fast nebensächliche Bemerkungen große Bedeutung zu legen und damit auf künstlerischer Ebene nachzuvoll-ziehen, wie schwer gerade die scheinbaren Nebensächlich-keiten wiegen.

 

James Baldwin komponiert seinen Roman aus wenigen Figuren, die alle in Bezug zu Rufus stehen. Und die - bis auf Ida, seine jüngere Schwester - alle weiß sind.

Sein engster Freund Vivaldo, das Ehepaar Richard und Cass, sowie Eric, der nach der gescheiterten Liebe zu Rufus für mehrere Jahre nach Paris ging. 

Diese Weißen sind Teil des liberalen Greenwich Village, Schriftsteller, Lehrer oder Schauspieler, offene Menschen, die an die Gleichberechtigung glauben.

 

Psychologisch bis in tiefste Tiefen leuchtet Baldwin jedoch aus, wie verankert die Trennung der Rassen in allen Köpfen ist.

 

"`Ich habe nie verstanden´, sagte er schließlich, `wieso du mir dauernd vorwirfst, ich würde so ein Thema um deine Hautfarbe machen, ich würde dich bestrafen. Du machst doch dasselbe. Du machst mich immer zum Weißen. Meinst du nicht, dass mir das wehtut? Du schließt mich aus.´"

So Vivaldo in einem der vielen Streitgespräche mit Ida.

Er will nicht einsehen, warum jede Diskussion mit ihr an diesem Punkt scheitert.

 

Ida, die vom Tod ihres Bruders tief getroffen ist, nach Erklä-rungen sucht, endet in all ihren Überlegungen immer wieder bei der Tatsache, dass er schwarz war.

"Weil ich schwarz bin, ... weiß ich mehr darüber, was mit meinem Bruder passiert ist, als ihr je wissen werdet."

 

Ist es wirklich nicht möglich, einander zu verstehen?

 

Der Roman stellt auch ganz eindringlich die Frage, ob und wie Beziehung überhaupt funktionieren können.

In jeder Liebe scheint ein großes zerstörerisches Potential zu bestehen, auch wenn die Hautfarbe dieselbe ist.

So setzt jedes Kapitel einen eigenen Schwerpunkt und erzählt von den Erlebnissen der diversen Paare, nur eines davon hat (hoffentlich) einen Weg gefunden, in gegenseitiger Liebe miteinander leben zu können.

 

Erschienen ist der Roman 1962, er spielt in den 1950er Jahren. Den heutigen LeserInnen stehen angesichts der sich durchziehenden Aussagen zur Polizei und ihrer Gewalt-bereitschaft sofort die Bilder der letzten Jahre aus der Black Lives Matter-Bewegung vor Augen. 

 

"Denn alle Polizisten waren schlau genug zu wissen, für wen sie arbeiteten, und nirgendwo auf der Welt arbeiteten sie für die Machtlosen."

 

Ein Satz von erschreckender Wahrheit. Gedacht von Eric, der nach vielen Schwierigkeiten mit vorsichtiger Hoffnung in die Zukunft blickt. Ihm und seinem Liebhaber Yves gehört das letzte Kapitel eines Romans, der so unglaublich tief in die Seelen seiner Protagonisten und des Landes, in dem er angesiedelt ist, eintaucht.

 

Ist ein anderes Land möglich?

 

Ebenfalls im Jahr 1962 erschienen zwei Essays Baldwins, publiziert in dem Band Nach der Flut das Feuer

Darin ist zu lesen:

"Weiße können nicht allgemein als Vorbilder für unsere Lebensführung dienen. Vielmehr braucht der Weiße selbst dringend neue Wertmaßstäbe, die ihn von seiner Verwirrung erlösen und wieder fruchtbar mit den Tiefen des eigenen Seins verbinden. Und ich wiederhole: Der Preis für die Befreiung der Weißen ist die Befreiung der Schwarzen - die völlige Befreiung, in den Großstädten, in den Kleinstädten, vor dem Gesetz und im Kopf."

 

Dieser Gedanke ist auch deshalb interessant, weil sich in Hinblick auf Rufus Scott die Frage stellt, warum Baldwin gerade weiße Figuren gewählt hat, um den schwarzen Musiker und seine Lebenssituation zu ergründen. Ist es das gegenseitige Verschlungensein, die Unmöglichkeit einer freien Gesellschaft, wenn nicht alle frei sind?

 

Der Roman ist von einer überwältigenden Intensität und Tiefe. Er wurde als Baldwins "explizitester und leidenschaft-lichster" Roman bezeichnet. Ich möchte noch hinzufügen: sein psychologischster. Selbst Liebesszenen spiegeln eher die Seelen der Figuren, als dass sie die körperliche Ebene schildern.

Keiner der Protagonisten bleibt ohne Verletzungen und doch versinken sie nicht im Schmerz. Sie ringen um Liebe und Verständnis, sie geben die Hoffnung auf ein anderes Leben und ein anderes Land nicht auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

James Baldwin: Ein anderes Land

Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow

Mit einem Nachwort von René Aguigah

dtv Hardcover, 2021, 576 Seiten

(Originalausgabe 1962)