James Baldwin - Nach der Flut das Feuer

Nach den Romanen "Von dieser Welt" und "Beale Street Blues" hat der dtv-Verlag nun einen Band mit zwei Essays veröffentlicht, beide entstanden im Jahr 1962. Mit diesen Texten hält der Leser ein Werk in den Händen, das nicht weniger poetisch, kraftvoll,

an die Wurzeln gehend und der Wahrheit verpflichtet ist, genauso packend und zutiefst  beeindruckend.

 

Der erste Text ist ein sechsseitiger "Brief an meinen Neffen zum hundertsten Jahrestag der Sklavenbefreiung", überschrieben mit: "Mein Kerker bebte".

 

Baldwin (1924-1987) schreibt an den fünfzehnjährigen Sohn seines Bruders, er gibt ihm eine Art Surrogat seiner Lebens-erfahrungen mit auf den Weg ins Erwachsenwerden.

Darin enthalten sind Sätze, die die Wirkung von Hammer-schlägen haben:

 

"Euch kann nur der Glaube zerstören, dass ihr tatsächlich

das seid, was die weiße Welt einen Nigger nennt.

Das sage ich Dir, weil ich Dich liebe, bitte vergiss das nie." 

 

"Du wurdest geboren, wo Du geboren wurdest, mit Zukunfts-aussichten, die Deine Aussichten waren, weil Du schwarz bist - aus keinem anderen Grund. Deinem Streben sollten für alle Zeit Grenzen gesetzt sein."

 

"Bitte vergiss nie, dass das, was sie glauben, dass das, was sie tun und Dir zumuten, nicht von Deiner Minderwertigkeit zeugt, sondern von ihrer Unmenschlichkeit und Angst."

 

"Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren.

Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren. Das ist mein voller Ernst. Du musst sie akzeptieren, und zwar mit Liebe."

 

Die Worte an den Neffen enden in der Feststellung:

"Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh. Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind."

 

Es  folgt der "Brief aus einer Landschaft meines Geistes",

er trägt die Überschrift "Vor dem Kreuz."

 

In diesem sehr viel längeren Text führt Baldwin aus, was er in dem Brief an seinen Neffen angesprochen hat.

Er beginnt mit einer Erinnerung an sich selbst im Alter von vierzehn Jahren, sich also in jenem Alter befand, in dem sein Neffe nun ist. Ihm wurde damals klar, wie das Leben "da draußen" funktioniert. Ihm wurde klar, wie kurz der Weg in die Kriminalität ist, wie dieser Weg fast schon vorgezeichnet ist. Was anfangen mit einem guten Schulabschluss, wenn danach ein Aushilfsjob folgt? Wozu arbeiten und sparen, wenn doch keine Möglichkeit besteht, den "Verhältnissen",

in denen die Schwarzen leben, zu entkommen?

 

Baldwin beschreibt seine Hinwendung zur Kirche, die er in diesem Alter erlebt und die so stark ist, dass er sogar Prediger wird. Hier wird ganz deutlich, aus welcher Quelle sich der Roman "Von dieser Welt" speist, denn er spricht auch von jenem Erweckungserlebnis das ganz zentral für den Roman ist. 

Sein Glaube entwickelt sich nicht nur zu einem Kampf mit dem Vater, sondern auch mit der Erkenntnis: "Gott ist weiß."

Seine Zweifel führen ihn schließlich wieder hinaus aus der Kirche, denn "vor allem meine ich, dass es in der Kirche keine Liebe gab. Sie war ein Deckmantel für Hass, Selbsthass und Verzweiflung."

 

Baldwins Verhältnis zu Glaube und Kirche können symbolisch für seine Wahrnehmung und Analyse der Welt stehen: er erzählt von sich selbst, erzählt außerordentlich ehrlich von erschütternden Erlebnissen und verknüpft diese mit der Gesellschaft und der politischen, soziologischen und geistigen Lage des Landes, in dem er lebt - wie die Schwarzen darin leben bzw. zu leben gezwungen sind. 

 

Im Zusammenhang mit der Religion schreibt er erhellend über die Verbindung von Kirche und Macht, von Missio-nierung und Kolonisierung, darüber, wie sich die christliche Kirche in einen Mechanismus der Unterdrückung entwickelt hat. 

 

Viele Schwarze setzten ihre Hoffnungen deshalb in den Islam, dessen Gott als "der schwarze Gott" empfunden wird.

Begegnungen mit dem Führer und Vertretern der "Nation of Islam", mit den Gedanken von Malcolm X, die Idee, einige Staaten für die Schwarzen zu fordern und sich von den USA abzuspalten, die Veränderungen durch den Zweiten Weltkrieg - alles kommt zur Sprache, bzw fließt ein in die Überlegungen, wie die Situation, das Leben eines großen Teils der Bevölkerung verbessert werden kann.

 

Baldwin bringt seine Ausführungen zugespitzt auf die schlicht klingende Frage:

"Ist Liebe nicht wichtiger als Hautfarbe?"

Damit kommt er auf einen Gedanken zurück, der am Anfang jeder Religion steht und doch nach einer unerhörten Forderung klingt. Entscheidend ist, dass er die Befreiung der Schwarzen mit einer Befreiung der Weißen verbindet.

Das Konzept der "Integration" hatte er schon immer abgelehnt, bedeutet es doch die geforderte Anpassung an

ein Wertesystem, das im Innersten ungerecht, unmenschlich und in Wirklichkeit ein Machtsystem ist. 

 

Nein, was Baldwin fordert ist eine Befreiung aller:

"Weiße können nicht allgemein als Vorbilder für unsere Lebensführung dienen. Vielmehr braucht der Weiße selbst dringend neue Wertmaßstäbe, die ihn von seiner Verwirrung erlösen und wieder fruchtbar mit den Tiefen des eigenen Seins verbinden. Und ich wiederhole: Der Preis für die Befreiung der Weißen ist die Befreiung der Schwarzen - die völlige Befreiung, in den Großstädten, in den Kleinstädten, vor dem Gesetz und im Kopf."

 

Wie weit die Welt heute, mehr als fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches, davon entfernt ist, muss nicht erwähnt werden. Hundert Jahre zu früh wurde der Jahrestag der Befreiung gefeiert... Hundert Jahre?

 

In einem sehr guten Vorwort geht Jana Pareigis, über ihre Einführung zu James Baldwin hinaus, auf die momentane Situation von Schwarzen und anderen Minderheiten ein, in Amerika, in Europa, auch in Deutschland - man sollte sich hüten, das Problem als ein amerikanisches zu betrachten. 

 

Egal wo, es gilt, dass eine Veränderung und Neugestaltung der Gesellschaft nur gemeinsam bewältigt werden kann.

Baldwins Bestseller - ein solcher wurde er in den Vereinigten Staaten sofort nach Erscheinen - ist ein zutiefst humanistisches Plädoyer für die Menschenrechte, das mit großer literarischer Kraft für die Freiheit aller kämpft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer

Übersetzt von Miriam Mandelkow

dtv Hardcover, 2019, 128 Seiten

(Originalausgabe 1963)