Bov Bjerg - Serpentinen

Dieser Roman erzählt von zwei Söhnen und zwei Vätern. Höppner, vielen LeserInnen bekannt aus Bov Bjergs Vorgänger "Auerhaus", kehrt als Mitt-fünfziger  zurück in das Dorf seiner Kindheit und Jugend. Jenes, in dem das Grab des Freundes Frieders war (es ist nun bereits aufgelöst), in dem die Mutter nun im Pflegeheim ist, in dem so vieles Vergangenheit atmet und mehr als genug Erinnerungen                                                                     nach oben gespült werden.

 

Höppner, der gleich nach der Schule nach Berlin zog und dort studiert hat, ist Professor für Soziologie, verheiratet mit M.

Spät ist er Vater geworden, der "Junge" ist nun sieben. So alt war der Ich-Erzähler, als sein Vater sich das Leben nahm.

Der Junge - er bekommt keinen Namen - erlebt ab nun etwas, das dem Erzähler nicht gegönnt war: einen Vater zu haben.

 

Der Erzähler als Vater und als Sohn, um dieses Thema kreist der Roman. Der all die Serpentinen, die konkret die Wege auf die Alb hinauf sind, zu deren Fuß das Heimatdorf liegt, im übertragenen Sinne den Weg in die Vergangenheit bezeichnet, den er gehen muss, um (vielleicht) zu einem Schluss, einem Schlussstrich, zu kommen.

 

Ob es eine gute Idee war, den Jungen mitzunehmen?

 

Sie machen Ausflüge, besuchen Museen, den Friedhof, die Kapelle, die Mutter bzw. Großmutter, wandern zusammen.

Immer wieder taucht die Frage auf: Bin ich ein guter Vater?

Ein solcher möchte er sein, nach den katastrophalen Erfahrungen, die er selbst mit seinem Vater gemacht hat.

 

Und er spürt, dass er es kaum schafft, sich aus all den Mustern, Schleifen, Serpentinen der eigenen Kindheit zu befreien. Dabei will, nein, muss er eine "Tradition" unter-brechen:

 

"Das würde sich nicht wiederholen. Die Tradition war hier zu Ende. Der Junge würde nicht ohne Vater sein, und er würde keinen Sohn haben, der ohne Vater war. Und sein Sohn würde keinen Sohn haben, der ohne Vater war. Und."

 

"Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere.

Ich war noch am Leben."

 

Diese Tradition des Selbstmordes zu unterbrechen ist die Lebensaufgabe des Erzählers. 

 

Eine wiederkehrende Frage des Romans ist: "Worum geht es?" Diese Frage stellt der Junge im Spiel - für den Erzähler ist sie existenziell.

 

Er muss fertig werden mit den Nazis, die noch überall leben, mit dem "Schwarzen Gott", d.h. der Schwermut, und dem Gedanken, niemals "gut genug" gewesen zu sein. Sowie dem Wissen, nie irgendwo wirklich dazu gehört zu haben.

 

Hier spielt der Status der Familie im Dorf eine Rolle:

die Eltern waren Vertriebene, nach dem Krieg angesiedelt, mit anderem Dialekt, anderer Religion.

Aber auch in Berlin, nun Hochdeutsch sprechend, gehört er nicht dazu: er hat seine Klasse verlassen. Äußerlich ist er Teil des Bildungsbürgertums. Er spürt jedoch pausenlos, dass er nicht zu denen gehört, die sich selbstverständlich in diesem Milieu bewegen.

 

Die Geschichte spitzt sich auf das Ende hin sehr zu.

Der Junge steht hier im Mittelpunkt und eine Institution,

die sich DIE GROSSE BRILLE nennt.

Dieser muss der Ich-Erzähler Rede und Antwort stehen. 

 

Der Roman ist nicht reich an Handlung. Interessant und auch spannend wird er durch die Erzählweise: die Serpentinen erscheinen als die Bahnen, in denen ein Leben verläuft. 

In denen das Denken sich abspielt. 

Der Erzähler ist so wenig frei wie sein Vater, sein Großvater. Er kämpft gegen die Wut und Gewalt im Innern, er wieder-holt Muster, er reagiert zu oft reflexartig.

 

Weder die Großstadt, noch Karriere und sozialer Aufstieg haben ihn von dem befreit, was er als Kind erlebt hat.

Das unter anderem gelernt hat, dass nur körperliche Arbeit richtige Arbeit ist. 

 

"Ich hatte nie gearbeitet, immer nur gelesen, geschrieben, gedacht, gelabert."

 

Und doch ist es keine hoffnungslose Geschichte.

Eben weil der Erzähler nicht auf der Suche nach einer Abkürzung ist. Weil ihm klar ist, woran er krankt.

Und weil der Junge sehr klug ist, manchmal schon fast weise. Viel weiser und weiter als sein Vater.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bov Bjerg: Serpentinen

Claassen Verlag, 2020, 272 Seiten