Lewis Grassic Gibbon - Lied vom Abendrot

Dieses lange, unglaublich schöne und sehr melodische Lied erzählt die Geschichte der Chris Guthrie, des Dorfes Kinraddie, des Pachthofes Blawearie, südlich Aberdeen gelegen, und es berichtet von der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, dessen Schrecken und Folgen auch vor einem armen Landstrich im Nordosten Schottlands    nicht halt machten.

 

Dieses Lied taucht ein in die Vielfalt der Landschaft, die nur auf den ersten Blick eintönig wirkt, es nimmt den Rhythmus der Jahreszeiten auf, die die Arbeit des Tages bestimmen,

es singt noch einmal von einer Zeit, die im Untergehen begriffen ist.

 

Vom "Abendrot eines Zeitalters und einer Epoche" handelt das Buch, das mit der Aufstellung eines Denkmals, das an

die Gefallenen erinnert, endet. "Mit ihnen, können wir sagen,

ist etwas gestorben, das älter war als sie, sie waren die Letzten Bauern, die Letzten vom alten Schlag der Alten Scots. Eine neue Generation wächst heran, die nichts von ihnen wissen wird, höchstens als Erinnerte in einem Lied, so gehen sie dahin mit den Dingen, die ihnen gut erschienen, mit Liebe und Begehren, die in die kommenden Zeiten blass und fremd wirken werden. Das alte Schottland ist mit ihnen zugrunde gegangen...".

 

Die Kapitelüberschriften sind Begriffe aus der Landwirt-schaft: Pflügen, Eggen, Zeit der Saat, Ernte.

Sie veranschaulichen die Entwicklung der Menschen, vor allem der Hauptperson des Buches: Chris Guthrie.

Die Familie Guthrie kommt nach Kinraddie, nachdem ihre Pacht auf dem alten Hof nicht erneuert worden war.

Die Eltern, die Kinder Will (16), Chris (15), Dod, Alec und die Zwillinge, sieben Jahre jünger als Alec. Diese sind Babies, als die Familie umziehen muss, die Mutter ist sehr geschwächt von der Geburt. 

 

Chris, die sehr intelligent ist und ein Stipendium hat, wechselt auf das College in Duncairn. Sie glänzt in Latein und Französisch, Griechisch und Geschichte, ihre Aufsätze sind so gut, dass sie sie der Klasse laut vorlesen darf.

Sie liest Bücher, tritt "in sie hinein, in das Zauberland weit weg...".  Sie spricht Englisch in der Schule - das allein führt sie weg von ihren Leuten.

 

Englisch versus Scots, die Hochsprache der Gebildeten und derer, die von außen kamen, um das alte Land der Schotten zu regieren, dieses Thema zieht sich durch das ganze Buch.

Die zwei Sprachen symbolisieren hier auch die beiden Chris´, die es gibt: "So sahs also bei Chris aus mit ihrem Lesen und ihrem lernen, zwei Chris´gab es, die kämpften um ihr Herz und setzen ihr zu."

 

Chris träumt von der Universität und davon, Lehrerin zu werden. Weg von der Landwirtschaft, weg vom Vater, der sie maßregelt und vor allem ihren Bruder so schlägt, dass er ihn fast umbringt. Aber vielleicht sollte sie doch bleiben, sie liebt das Land, den Geruch, den Gesang der Vögel.

"... sie war bloß erst gepflügtes Land, die Furchen gingen kreuz und quer, du wolltest mal dies, du wolltest mal das ...".

 

So endet das erste Kapitel. Noch ist Chris´ Leben offen.

Das zweite Kapitel ("Eggen") spielt ein Jahr später, beginnt aber mit einem Rückblick. "Im Juni letztes Jahr wars gewesen, an dem Tag, als Mutter sich und die Zwillinge vergiftet hatte."

 

Die Mutter war wieder schwanger gewesen. 

"Nicht nur Mutter war mit den Zwillingen gestorben, etwas in deinem Herzen starb mit ihr und legte sich mit ihr ins Grab auf dem Kirchhof von Kinraddie - das Kind in deinem Herzen war damals gestorben...  Das starb, und die Chris der Bücher und Träume starb dabei..."

 

Dod und Alec kommen zur Tante in die Stadt. Will und Vater sprechen nicht mehr miteinander. Will träumt von Kanada, Chris träumt von der Liebe, zur Schule geht sie nicht mehr.

"Das war nun der Erntezeitkoller, der Chris überkam, mild war er, und sie schlief mittendrin ein. Doch er hinterließ seine Spur in ihr, so wie die lange Egge nach einem braunen stillen Mai ihre Spur in den krümelnden Schollen hinterlässt, weder Schmerz noch Wonne blieb ihr davon, doch die Spur würde ihr Leben lang bleiben, ihr langer dunkler Schwung auf dem langen, wartenden Feld."

 

Das Leben besteht hauptsächlich aus Arbeit.

Die Ereignisse: ein neuer Pastor kommt ins Dorf, ein Hof brennt ab, Will geht mir seiner großen Liebe Mollie zuerst nach Aberdeen, von dort aus nach Argentinien, die Parla-mentswahl steht bevor. Und Chris lernt Ewan Tavendale kennen. Immer wenn sich etwas besonderes ereignet, streift er ihren Weg. Ein weiteres Ereignis: der Vater stürzt im Hof, da ist Will schon weggegangen, Chris findet ihn in einer Blutlache.

Zur Arbeit auf dem Hof gesellt sich nun die Pflege des Vaters, der keineswegs mild geworden ist. Mit einer Trillerpfeife ruft er sie, wenn er etwas braucht. Das tut er oft.

 

Die "Zeit der Saat" ist gekommen. Im übertragenen Sinne.

Chris ist erleichtert, als Vater endlich stirbt. Auch weil sie die Angst nicht verließ, er würde sie zwingen, bei ihm zu liegen.

"Sie war endlich frei". Sie musste nur die Beerdigung hinter sich bringen, die Verwandtschaft loswerden.

Der Vater hat ihr alles vermacht, ohne Auflagen und zur völlig freien Verfügung. Sie würde alles verkaufen, zur Uni gehen, "als Lehrerin abschließen und einen Strich ziehen unter Kwoss und Fron des Bauernlebens. ... sie war frei, frei zu tun, was ihr gefiel und zu träumen, wie es ihr gefiel, endlich!"

 

Als sie jedoch die Kühe holen geht, erliegt sie vollkommen dem Zauber des Landes. Wind und Boden, Täler und Flüsse,  die Felder, die "Aufrechten Steine" am See. Das Land wird zum einzig Verlässlichen, es wandelt sich, aber es ist immer da, "du warst ihm nah und es war dir nah, nicht auf kalten Abstand hielt es dich". Sie erfährt, dass sie "gefesselt und gebunden" ist an das Land. Alle Träume von einem anderen Leben sind nichts als "Spielzeug".

 

Chris findet eine alte Frau, die ihr zur Hand geht auf dem Hof. Sie bleibt. Sie heiratet Ewan Tavendale, nicht lange nach Vaters Tod feiern sie ein großes und schönes Fest.

Es ist eine Liebesheirat.

 

Es folgt die "Ernte". Gemeinsame Arbeit auf dem Hof, der kleine Ewan kommt zur Welt. Chris ist jetzt Anfang zwanzig, es ist das Jaht 1914. In Kinraddie meint man, weit weg vom Krieg zu sein, doch das ändert sich schnell.

Ewan wird nicht der Einzige sein, der nicht aus Frankreich zurückkommt. Menschen sterben und das Land verändert sich. Für die Kriegsproduktion werden Wälder abgeholzt, Chaen wird mit seiner Prophezeiung, dass auf dem offenen Feld kein Korn mehr gedeihen wird, recht behalten.

Die Landwirtschaft der kleinen Höfe stirbt, es setzten industrielle Produktionsweisen mit Maschinen ein.

Die Männer, die zurückkommen, sind an Leib und Seele verwundet. Einige Bauern werden reich, andere versinken in Armut oder Alkohol.

 

Chris ist Mitte zwanzig, ein weiteres Kind hat sie nicht bekommen, als sie Witwe wird. Schon lange hatte sie mit Hilfe eines Knechtes den Hof bewirtschaftet, weit weit weg von den alten Träumen. Ein kurzer Heimaturlaub Ewans in Blawearie war ein Alptraum gewesen, aus dem großen Jungen, der er gewesen war, war ein roher und brutaler Kerl geworden. Als er wieder geht, entfernt sie ihn aus ihrem Herzen, "einer großen Last hatte sie sich entledigt."

 

Eine kleine Passage sei hier noch zitiert, sie fasst den Geist des Romans wunderbar zusammen:

"Gekränkt und verstört wie sie war, wandte sie sich dem Land zu und hielt sich daran, an das Land und seinen Geruch, und es war gut zu ihr, all wieder gut, es erhob sich nicht gegen dich, um dein Herz zu peinigen, mit dem Land konntest du Frieden halten, wenn du ihm Herz und Hände liehest, es versorgtest und für es frontest, es war wild und tyrannisch, aber grausam war es nicht."

 

Zum größten Teil ist der Roman aus der Sicht eines Erzählers geschrieben, der von Chris und all den anderen Menschen berichtet. Doch an manchen besonders intimen Stellen, spricht der Erzähler Chris als ein "du" an. Und übernimmt damit die Rolle eines Sorgenden und eines Gefährten.  

 

Lewis Grassic Gibbon, mit bürgerlichem Namen James Leslie Mitchell, aus dessen Feder auch die "Szenen aus Schottland" stammen, hat diesen Roman in einer an den Dialekt angelehnten Sprache geschrieben. Die am gesprochenen Wort orientierte Dichtung ist überaus lebendig und mit dem Land verbunden, in dem die Geschichte spielt.

Esther Kinsky, deren Übersetzung nicht hoch genug zu loben ist, hat für ihre Übertragung ebenfalls nicht die Hochsprache gewählt, sondern sich am Plattdeutschen mit memelländischen Einsprengseln orientiert. Mit diesem Tonfall, der dem der schottischen Ostküste entspricht, erhält sie die Lebendigkeit und die einzigartige Melodie, die den Text trägt. Das macht die Lektüre zu einem ganz außergewöhnlichen und  außerordentlichen Genuss. 

 

Das eigentliche "Lied" wird eingerahmt von einem "Vorspiel" und einem "Nachspiel". Beide tragen die Überschrift "Das Feld ohne Furchen."  Hier wird - nicht ohne Ironie - über die Bewohner berichtet, von Vergangenem erzählt, die Land-schaft beschrieben. Beide Teile sind eine Art Singsang, ein Chor, der vorbereitet oder kommentiert und der den Leser auf die Konflikte zwischen Kollektiv und Individuum hinweist. Und ihn mitnimmt mitten hinein nach Kenraddie (hier lebt eine außerordentlich Vielfalt an Menschen, die alleine das Buch schon lesenswert machen) und mitten hinein in das Leben Chris Guthrie-Tavendales.

 

 

Es sei noch bemerkt, dass im Jahr 2016 dieser Entwicklungs- Gesellschafts- und Epochenroman zum "Lieblingsbuch der Schotten" gewählt wurde. Es ist ein lokal verwurzelter, aber in keinster Weise provinzieller, sondern in jeder Hinsicht unkonventioneller Roman, der Mensch und Landschaft auf einzigartige Weise mit sehr viel Empathie darstellt und dem große Aufmerksamkeit gebührt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lewis Grassic Gibbon: Lied vom Abendrot

Übersetzt von Ester Kinsky

Guggolz Verlag, 2018, 397 Seiten

(Originalausgabe 1932)