Esther Kinsky - Rombo

Am Abend des 6. Mai 1976 erschüttert ein Erdbeben das im Nordosten Italiens gelegene Venetien. Die Katastrophe fordert fast 1000 Menschenleben, Dörfer und Städte werden zerstört, Berge verändern ihre Gestalt, Bäche und Flüsse ihren Lauf, das Gelände verschiebt sich. "Die seismischen Stöße im Mai spalteten Leben und Landschaft in ein Vorher und ein Nachher."                  

 

Esther Kinsky beschreibt in ihrem grandiosen Roman "Rombo", benannt nach dem unterirdischen Geräusch, das jedes Beben begleitet, den Tag des Geschehens und die Zeit danach. Sieben Personen erzählen ihre jeweilige Sicht, ihr Erleben, ihre Verzweiflung. In sieben Kapiteln mit einem je eigenen Schwerpunkt bewegt sie sich in einer Art Kreisbe-wegung durch ein Geflecht an Erinnerungen, die zunächst kaum formuliert werden können, dann aber immer klarer zutage treten.

 

Zunächst nähert sich die Autorin, die über unendliche sprachliche Möglichkeiten verfügt, der "Landschaft", so die Überschrift des ersten Kapitels. Das ist ein Panoramablick auf die Karnischen Alpen und Julischen Voralpen, auf Flüsse, Passagen, die seit jeher von Durchziehenden genutzt werden, auf schneebedeckte Gipfel, schroffe Hänge.

Eine Einführung in das Gelände, die seismische Zone.

 

Man begegnet nach und nach den Personen, die, beginnend am frühen Morgen, von jenem 6. Mai berichten.

Die Vorzeichen erscheinen im Rückblick mehr als deutlich. Eine unnatürliche Hitze, Hunde, die nicht aufhören zu bellen, Vögel, die schreien, "als ob es brennt", bitter riechende Milch der Ziegen. Die Tiere scheinen zu fühlen, dass sich etwas zusammenbraut. Die Menschen werden überrascht.

 

In diesem ersten Kapitel liegt ein Fokus auf Wegen. Jenen im Gelände, jenen der Erinnerung. Jede der sieben Personen fragt sich, was ist Erinnerung, wie stellt sie sich ein?

Und ganz konkret: wie sah der Berg vor dem Beben aus?

Wo verläuft jetzt der Weg, den man vorher blind gehen konnte?

 

Den Erinnerungen der Menschen sind Texte über Höhlen, Berge, Flüsse beigegeben, im folgenden Kapitel solche über Tiere und Pflanzen. Rückblenden in die Kindheit bzw das vorherige Leben ergänzen die nun konkreter werdenden Gedanken Anselmos, Linas, Silvias, Maras, Gigis, Tonis und Olgas. Man lernt ihre Familien kennen, die Musik und die ganz besonderen, endlosen Tänze des Tals, den Carneval und seine Masken, hört Märchen und Legenden, wie die der Riba Faronika, einer Meerjungfrau, die durch ein Zucken ihres Fischschwanzes Erdbeben auslösen kann. Man lernt die Arbeit der Bauern und Hirten kennen, auch die Tatsache, dass es keine Familie gibt, von der nicht einige Mitglieder im Ausland arbeiten. 

 

Ein ganzes Kapitel widmet sich der Fotografie. Von der Beschreibung, wie diese ganz zu Beginn ihrer Entwicklung aussah, über Fotografierende und Aufgenommene, über moderne Sofortbildkameras und robuste russische Modelle.

Unter "Fundstücke" beschreibt Esther Kinsky Fotos, die Szenen aus dem täglichen Leben zeigen, oder die besonderen Gelegenheiten, bei denen sie aufgenommen wurden.

 

Diese Auseinandersetzung mit der Fotografie erscheint wie ein Gegenzauber zur Erschütterung und Verschiebung der Welt. Ist die Fotografie nicht der Versuch, die Zeit für einen Moment anzuhalten, sie auf Papier festzuhalten?

 

Ein zweites Beben ereignet sich Mitte September.

"Dinge, die gerade erst wieder aufgebaut waren, stürzten ein. Und Häuser, die man gerettet geglaubt hatte, bekamen jetzt große Risse. Alle hatten den ganzen Sommer über an ihren Häusern gearbeitet, und jetzt war so vieles wieder dahin. Viele sind damals weggegangen, vor allem die mit Kindern. ... Das Tal war wie ausgeleert. Und wenige sind wieder gekommen. ... Was ist ein Erdbeben? Ein Erdbeben ist doch, als bewegte sich etwas Gewaltiges im Traum. Oder als wäre einem Riesen nicht wohl im Schlaf. Und das Erwachen ist eine neue Ordnung der Dinge in der Welt. Da wird der Mensch mit seinem Leben so klein wie der kleinste Stein im Fluss."

 

Diese Worte Gigis, des Ziegenhirten, drücken das Unfassbare des Geschehenen aus. Olga wählt drei Mal genau die gleichen Worte, um zu beschreiben, wie es ihr ergeht: "In meiner Nase und im Mund ist noch diese Erinnerung, wie eingestempelt, und ich weiß nie, wann sie aufwacht."

Die Erzählungen der Menschen sind individuelle Ausprä-gungen eines Ereignisses, das sich ins kollektive Gedächtnis "eingestempelt" hat. 

 

Das letzte Kapitel geht auf den Wiederaufbau der schwer zerstörten Stadt Venone ein. "Ein langer aus einem zerstörten Fresko geretteter Streifen, der bedeckt ist mit Zeichen",

die Pilger hinterlassen haben, fasziniert Esther Kinsky besonders. Fotos davon zieren das Buch zu Beginn eines jeden Kapitels, auch das Cover. Es sind Markierungen von Wandernden, "die im Gedächtnis dieses Ortes bleiben, sich mit einem Zeichen gegen das Vergessen stemmen wollten. ... Ein unentzifferbares Zeichenband, eine brüchige Erzählung aus angedeuteten, von der Zeit verschlüsselten Bildern, die vom Erinnern als Aufgabe handeln."

 

Hiermit schließt sie den Kreis zum Anfang des Romans, der von den Wegen der Erinnerung erzählt. Sie ist eine Aufgabe, die zum Menschsein gehört, denn ein Mensch ohne Erinnerungen "würde vielleicht genauso merkwürdig dastehen wie ohne Schatten. ... als ginge man ohne Spur durch die Welt."

 

Der aus kurzen Sequenzen bestehende Roman ist ein Gang durch die Welt. Er konzentriert sich nicht nur auf die Menschen, deren Leben durch das Beben gespalten wurde.

 

Der Ton, in dem die Protagonisten erzählen, ist ein tastender, den Spuren der sich einstellenden Erinnerungen folgend, durchzogen von den Erkenntnissen und Stützpfeilern derer, die ihre Gedanken äußern. Die Vielfalt an Beschreibungen von Flora und Fauna, Geologie und Wetterereignissen,  Traditionen, gesellschaftlichem Zusammenleben im Tal oder der Stadt, der Politik der Regierung nach dem Beben, den Evakuierungen, Alpini und anderem mehr klingen anders - zusammen ergeben diese verschiedenen Klangfarben ein eindringliches Bild jenes Bebens, das der eigentliche Held

des Romans ist.

 

Stets auf der Suche nach dem präzisen Wort, kreiert Esther Kinsky dieses selbst, sofern es das passende noch nicht gibt. Beispielsweise ein "beschneiter Gipfel unter blauem Himmel, umkrägelt von grünen Almen" oder der "Ziegenfellmann auf dem Bild, (der) auch als eine aufrecht gehende Ziege erkannt werden (kann), jedenfalls als ein Tier, so pelzlich ist sein Umhang..."

Die Sprache ist plastisch und genau, es steht kein Wort zu viel in diesem Roman, in dem auch dieser Satz steht:

 

"Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern bellt."

 

"Rombo" fängt diese Vielfalt ein, auch die Ungewissheit, 

"man weiß nie, wann sie aufwacht", so Olga.

 

 

 

Der Roman wurde noch vor Erscheinen mit dem

W.-G. Sebald - Literaturpreis ausgezeichnet. 

Eine schöne Würdigung für ein Werk, in dem von der kleinsten Beschreibung bis zum großen Bogen alles stimmt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Esther Kinsky: Rombo

Suhrkamp Verlag, 2022, 267 Seiten

 

 

 

 

 

 

 

Ich möchte hier auch noch auf den Vorgängerroman Esther Kinskys, Hain, Geländeroman, hinweisen, den ich ebenfalls mit großer Begeisterung gelesen habe. Dieser erzählt von Abwesenheit und von Verlorenem, in einer ungeheuren Präsenz von Wirklichkeit und Realität. Die Autorin beschreibt aber wesentlich mehr als die sichtbare Realität - stets schwingt eine an die Vergangenheit erinnernde, an das momentane Empfinden oder eine philosophische Überle-gung anstoßende Ebene mit. So transformiert die Dichterin das (konkrete) Gelände in einen "Hain". Seit dem 18. Jahr-hundert gilt dieser als Sitz und Symbol der Dichtkunst.  

Ebenfalls sehr empfehlenswert!