Esther Kinsky - Hain, Geländeroman

Meint das Wort "Hain" ursprünglich einfach ein kleines Wäldchen, erweiterte sich die Bedeutung im 18. Jahrhundert hin zum "heiligen Hain". Hier wurde er zum Symbol und Sitz der Dichtkunst.

Das "Gelände" ist da wesentlich nüchterner. Physikalisch-topografisch ist es einfach die Erdoberfläche mit ihren Höhen, Tiefen und speziellen Formen.

 

In drei Kapiteln erkundet Esther Kinsky das Gelände um die Städte Olevano, einer Kleinstadt nordöstlich von Rom gelegen, sehr bergig, außerdem Comacchio, das in der Lagunenlandschaft des Podelta liegt und im mittleren Teil die Gegend um Chiavenna in der Lombardei, nahe Sondrio.

 

Die Ich-Erzählerin kommt im Januar in Olevano an, nur zwei Monate nach der Beerdigung ihres Lebensgefährten M.

Die Reise scheint von beiden gemeinsam geplant gewesen zu sein, denn einen ersten Halt macht die Erzählerin in Ferrara. "Das hatten M. und ich uns für diese Reise vorgenommen.

Ferrara im Winter. Der Garten der Finzi-Contini im Schnee oder gefrierenden Nebel. Der Dunst der pianure. Italien war ein Land, in dem wir nie zusammen gereist waren."

 

Nun reist sie also alleine. Keine Ablenkung durch Gespräche. Sie ist ganz Wahrnehmung, sieht eine unglaubliche Fülle an Farben. Beschreibt das Licht des Landes, das Kindheits-erinnerungen weckt, kommt an in dem Städtchen, bezieht die gemietete Wohnung, beobachtet die Leute bei ihren täglichen Gängen, die Rauchwolken der Feuer im Gelände.

Sie gewöhnt sich an, täglich frühmorgens zum Friedhof des Dorfes hinaufzusteigen. Betrachtet die abgelegten Plastik-blumen, schaut sich die Bilder der dort Begrabenen an,

die immerwährenden Lichter.

 

Diese Zwiesprache der Lebenden mit den Toten, der Umgang und der Platz, der den Toten zugewiesen wird, die Bildchen als Wunsch, in Erinnerung zu bleiben sind Themen, das sich durch alle drei Kapitel ziehen.

Egal wohin die Erzählerin fährt, bald betritt sie den Friedhof. Das mag am Tod Ms. liegen, dessen Wunde noch sehr sehr frisch ist. Es mag auch an der Vorliebe, fast Besessenheit, ihres Vaters für die Kultur der Etrusker liegen, die nichts als ihre Totenstädte, necropoli, zurückließen, und die die Familie in jedem Italienurlaub besuchte.

 

Die Erzählerin fährt in umliegende Städte Olevanos und ihre Totenstädte, geht auf Märkte, beobachtet den Karneval und die Begehung des Frauentages, fährt nach Rom, das sich so sehr verändert hat seit dem letzten Besuch.

 

Während die erste Reise nach Olevano detailliert von einem wahrnehmenden und nachdenklichen "Ich" geschildert wird, dessen "bleischweres" Herz mit den bleifarbenen Wolken korrespondiert, das über sein "Handrepertoir" als "in diesem Körperteil ansässige Erinnerung" reflektiert und die Freude am Fotografieren wiederfindet, taucht die Erzählerin im zweiten Teil tief in ihre Kindheit ein.

 

Sie erinnert erste italienische Wörter (ihr Vater sprach die Sprache fließend), von denen ihr manche wie Murmeln vorkamen.

"Murmeln waren Geheimnisse in meiner Kindheit, es gab

nie Regeln für ein Spiel, auch keine Spieler, sie waren nur Habegut, in ihrer Schönheit unerklärlich."

 

Die Murmeln, die zu nichts Nützlichem nutze sind, klicken aneinander und erfreuen den Spieler in ihrer Schönheit.

Analog zu diesem Bild klicken Erinnerungen aneinander und lösen Gedankenketten oder Kaskaden aus - erfreuliche, traurige, auf jeden Fall nutzlos im Sinne der Ökonomie.

Aber von großer Gestaltungskraft.

 

Der Vater ist die dominante Person in der Familie.

Er bestimmt den Verlauf der Urlaubsreisen. Er versetzt die Mutter und die Kinder in Angst, wenn er zu weit hinaus-

schwimmt und stundenlang nicht zurückkommt, oder wenn er abends das Haus verlässt, in eine Bar geht oder spazieren, wortlos geht und lange wegbleibt, er gibt lange lange Erklärungen auf Fragen, die nicht unbedingt verständlich sind, er lenkt die Augen der Kinder, aber man bekommt nicht den Eindruck, als würde er sie als Menschen wahrnehmen.

 

Die Erzählerin spricht von der "tiefen Einsamkeit dieser Familiengruppe und jedes Einzelnen in ihr."

Die Erinnerungen an Totenstädte, verstorbene Freunde, verunglückte oder durch Jagd getötete Tiere sind ebenso wenig dazu geeignet, Brücken zu schlagen wie die Erinnerung an die vorletzte Begegnung mit dem Vater in Triest. Er hatte seinen Beruf aufgegeben und war Reiseleiter geworden. "Etwas an diesem kurzen Treffen in dieser Rand- und Grenzstadt ... erschien mir gestellt und unecht."

Auch bei dem letzten Wiedersehen kam keine echte Begegnung zustande.

 

Die dritte Reise findet wie die erste im Januar statt.

Wieder führt der Weg über Ferrara, die Reisende sucht

den "Garten der Finzi-Contini", so der Titel eines Romans von Giorgio Bassani. Diesen Garten gab und gibt es, er verweist auf die Schrecken des Faschismus, des Krieges

und der Deportationen - mit den Finzi-Contini ging eine Welt unter.

 

"Der Garten der Finzi-Contini blieb das von Erinnerungen und Lesarten überprägte Land, die Verlustzone, die sich in Deckung hielt. Der Sinn der Suche in den fremden Straßen mit den vertrauten Namen lag im empfundenen Streifen

der erahnten Ränder, die dieses Gelände der Verlorenheit säumten. Die Namen mussten als Halt reichen, dazu die Erinnerungen an die Wirklichkeit der Wandelgänge zwischen den begrünten Grabhügeln von Cerveteri."

 

Der Roman Bassanis ist das dichterische Werk, auf das die Erzählerin Bezug nimmt. Für mich ist das ein Hinweis darauf, dass das Werk des Dichters (jedes Dichters) jener Gedenkort der Geschichte ist, in dem das Verlorene aufgesucht werden kann. 

 

"...und erst jetzt, bei der Einsicht in die Vermischung des gelesenen Horchens ... mit meinen eigenen Erinnerungen, verstand ich nach all dem Wandern auf dem Stadtwall und durch die vom Corso Ercole I d ´Este abgehenden Straßen, dem Abschreiten der Via Arianuova und den im Kopf vorgenommenen Verortungsversuchen, dass der Ort in der Geschichte ein Gedenkort war, dessen Wege und Blickrichtungen anderen Regeln folgten als denen, die ich, als Fremde und Jahrzehnte später, verfolgen konnte. Er war ein Ort, der nur durch die Empfindung der Abwesenheit und das Gedenken an das Verlorene aufgesucht werden konnte und darin allen anderen betretbaren und betastbaren Orten Ferraras überlegene Wirklichkeit hatte."

(Hervorhebungen von mir, P.L.)

 

Die halb-Wasser-halb-Land-Landschaft um Comacchio bietet so wenig Halt wie das Gebirge um Olevano.

"Eine Landschaft oder Abwesenheit von Landschaft tat sich auf, die vergessen lassen konnte, dass es das Meer, Comacchio, die Bassa Padana gab, dass es überhaupt etwas anderes gab als dieses Schwanken des Wassers ....

Durch die scharfe Winterluft wanderte ich mit schwinden-dem Empfinden des Bodens unter meinen Füßen und geriet mit jedem Schritt tiefer in einen Traum, in ein Nichts- und Niemandsland aus leise bewegtem, kalt glitzerndem Wasser und wogenden Inseln, die nur Vögeln Halt und Zuflucht bieten konnten..."

 

 

Der Geländeroman Esther Kinskys erzählt von Abwesenheit und von Verlorenem. Er tut dies in einer ungeheuren Präsenz von Wirklichkeit und Realität - es wäre nicht schwierig,

die Orte, von denen sie spricht, zu malen, so konkret und detailliert beschreibt sie alles.

Sie beschreibt aber wesentlich mehr als die sichtbare Realität - stets schwingt eine an die Vergangenheit erinnernde,

an das momentane Empfinden oder eine philosophische Überlegung anstoßende Ebene mit.

So transformiert die Dichterin das Gelände in einen Hain.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Esther Kinsky: Hain, Geländeroman

Suhrkamp, 2018, 287 Seiten