Wolfgang Herrndorf - tschick

Eine Empfehlung für diesen Roman zu schreiben erscheint fast überflüssig.

So viele lobende Besprechungen sind darüber erschienen, die Bühnenfassung begeisterte unglaublich viele Zuschauer - in der Spielsaison 2013/14 überholte "Tschick" Goethes "Faust" und setzte sich an Platz 1 der Statistik.

Und das, obwohl Herrndorf sie in ziemlicher Eile "zusammengeschraubt" hat, wie er in seinem Blog "Arbeit und Struktur" berichtet.

Was also fasziniert an dieser Geschichte so sehr?

 

Eine Rohfassung lag vor, als er sich dazu entschloss, diesen Roman fertig zu schreiben. Und zwar als Jugendbuch.

 

Am 10.05.2010 schreibt er im Blog:

"C. hat mir einen Stapel Jugendliteratur hingestellt, damit ich sehe, was die Kollegen so treiben, darunter drei Gewinner des Deutschen Jugendbuchpreises. Bis auf ein Buch unternimmt keins die Mühe, eine Geschichte erzählen zu wollen. Sprachlich wirken sie, als wolle ein Kulturpessimist die Ansicht demonstrieren, Jugendliche könnten längere, zusammenhängende Sätze oder Gedanken weder formulieren noch begreifen...."

 

Faszinierend ist die rasante Story, in der zwei vierzehnjährige in einer Woche mehr erleben als in ihrem ganzen Leben davor. Und diese wird erzählt in einer Sprache, die erfrischend jung und unverbraucht ist, sich aber peinlichst vor jeder Art der Anbiederung hütet. 

Es gibt kaum etwas Schlimmeres im Jugendbuchbereich als einen Autor, der versucht, Jugendsprache nachzuahmen, aber niemals lebendigen jungen Menschen zugehört hat.

An keiner Stelle tritt Herrndorf in eine solche Als-ob-Falle und an keiner Stelle hält er seine jungen Leser für blöd.

 

Die Geschichte wird erzählt von Maik Klingenberg, der sich selbst für unglaublich langweilig hält. Er ist verliebt in die Klassenschöne Tatjana Cosic, die am letzten Schultag vor den großen Ferien eine Party gibt. Fast alle sind eingeladen, er gehört zu den wenigen nicht Eingeladenen. Und das, obwohl er ein wunderschönes Bild von ihr gemalt hat, ein Porträt von Beyoncé mit Tatjanas Augen. Monatelang hat er daran gearbeitet, in seiner Verzweiflung zerrissen, aber wieder geklebt.

 

Neu in der Klasse ist Andrej Tschichatschow, kurz Tschick.

Er ist Russe, Asi, intelligent aber oft betrunken, er hat ein Mongolengesicht mit Schlitzaugen und trägt grässliche Klamotten. Er hat einen älteren Bruder und die Klasse phantasiert sich einen interessanten Mafiahintergrund zusammen. Er ist ein armes Schwein, wie Maik auch.

 

Es dauert lange, bis die beiden sich anfreunden, aber als Tschick am Tag der großen Party mit einem blauen Lada, frisch "geliehen", bei ihm vorfährt und ihn überredet, Tatjana das Bild vorbeizubringen, beginnt eine neue Zeitrechnung.

 

Sie überbringen nicht nur das Bild, sie machen sich einen Tag später zusammen auf eine Fahrt in die Walachei. Dort lebt ein entfernter Verwandter Tschicks. Vermisst werden die beiden nicht, Maiks Eltern sind nicht da (die Mutter ist zum Entzug auf der "Schönheitsfarm", der Vater mit der Assistentin im Urlaub), Tschick lebt sowieso alleine mit seinem Bruder.

 

Ohne Karte und ohne Plan machen sie sich auf den Weg.

Zwei Jungs, von denen keiner älter als sechzehn aussieht, weshalb sie anfangs auch die großen, viel befahrenen Straßen meiden. Erst als sie merken, dass sie sich im Kreis drehen und noch kaum aus Berlin raus sind, entschließen sie sich dazu, die Autobahn zu benutzen. Tschick fährt mittlerweile auch recht sicher und das erste große Abenteuer wird das Tanken.

Erlebten sie bislang ihre Fahrt als Zweierteam, treffen sie nun Isa, eine einsame Seele, die nach Prag zu ihrer Halbschwester will. Isa redet wie ein Wasserfall, nervt manchmal, aber sie ist geschickt und weiß, wie man Benzin aus Autotanks abzapft. Für eine kurze Zeit schließt sie sich den Jungs an, und Maik ist sich bald nicht mehr sicher, wen er mehr liebt, Tatjana oder Isa.

Dieser Figur ist der letzte Roman Herrndorfs gewidmet, den er nicht mehr selbst fertig schreiben konnte. Er erschien posthum, nach seinem Entwurf bearbeitet und herausgegeben von seinen Freunden unter dem Titel

"Bilder deiner großen Liebe".

 

Unterwegs erleben sie große Naturschauspiele, sie fahren fast in Abgründe, sie kommen in ein verlassenes Dorf, wo sie von einem Mann, der geistig noch im Krieg lebt, beschossen werden, sie lernen eine unglaublich sympathische "Flusspferdfrau" kennen (eine korpulente Sprachtherapeutin, die Tschick einen Feuerlöscher auf den Fuß fallen lässt), Maik bekommt unerwartet telefonische Hilfe von einem Fremden nachts um vier Uhr, sie essen bei einer Familie, die offensichtlich bekloppt ist, aber sehr viel weiß, Maik lernt ebenfalls Autofahren (so lange Tschick schaltet klappt das prima) und Maik lernt, dass die Welt nicht so ist, wie die Erwachsenen ihm das vermittelt haben.

 

"Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatte mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Da klingelt man nachts um vier irgendwen aus dem Bett, weil man gar nichts von ihm will, und er ist superfreundlich und bietet auch noch seine Hilfe an. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird."

 

Dass die Reise nicht gut ausgeht, erfährt man auf der ersten Seite. Aber was heißt schon gut?

Die beiden krachen in einen Schweinetransporter, der sich quer gestellt hatte, überall sind quiekende Schweine, überall ist Blut und Maik verliert einen Teil seiner Wade.

Nur Fleisch, das wächst wieder nach. 

Nach kurzem Aufenthalt auf der Polizeistation folgt das Krankenhaus, einige Zeit später die Gerichtsverhandlung. Dort sehen sich die beiden Jungs erstmals wieder, Tschick lebt jetzt in einem Heim mit Kontaktverbot nach außen.

 

Maiks Vater ist völlig ausgerastet, als er seinen Sohn im Empfang nahm, später will er ihn zur Falschaussage anstiften, Tschick ist doch sowieso verloren...

Doch Maik bleibt bei der Wahrheit, bis auf ein Detail, er will die Flusspferdfrau nicht belasten. Tschick erzählt (ohne sich abgesprochen zu haben), die gleiche Variante der Wahrheit.

 

"Es war ein euphorisches Gefühl, ein Gefühl der Unzerstörbarkeit. Kein Unfall, keine Behörde und kein physikalisches Gesetz konnten uns aufhalten. Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein ..."

"Ich dachte, dass ich das alles ohne Tschick nie erlebt hätte in diesem Sommer und dass es ein toller Sommer war, der beste Sommer von allen..."

 

Warum also eine weitere Empfehlung für diesen Roman, der längst ein Bestseller ist?

Weil es eine neue Ausgabe der Edition Büchergilde gibt, erschienen am 1.Juni 2016.

Diese wurde illustriert von Laura Olschok, einer jungen Künstlerin, keine zehn Jahre älter als Maik und Tschick.

Sie schreibt in ihrer Nachbemerkung, dass sie zusammen mit den beiden Reisenden Deutschland als ein "Wunderland" entdeckte, "nicht immer schön und bunt, oder gar kitschig, sondern oft skurril, dunkel und heimlich."

Diesem Eindruck verleiht sie mit ihren dunkel gehaltenen, aber immer farbig durchbrochenen Zeichnungen Ausdruck.

Die "bizarre Fülle der Eindrücke" des Textes, die über den Leser hereinbrechen, nimmt sie auf und bringt mit und in ihren Bildern "ein wenig Licht in die Sache."

 

Ihre Figuren haben keine Gesichter (und werden dadurch universell), ihre Landschaften zeichnen sich durch große Tiefe aus, ihre Szenen reflektieren stets die "bedeutsamen Momente dieser Erzählung" und geben einen roten Faden.

Insgesamt verleihen die Zeichnungen dem Buch eine neue Ebene an Anschaulichkeit und fangen das Gefühl der Geschichte wunderbar ein. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wolfgang Herrndorf: Tschick

mit 22 Illustrationen von Laura Olschok, dreifarbigem Rundumfarbschnitt und Lesebändchen

Edition Büchergilde, 2016, 288 Seiten