Wolfgang Herrndorf - Bilder deiner großen Liebe

 

 

Ein unvollendeter Roman, posthum erschienen im September 2014, herausgegeben von Herrndorfs Freunden Marcus Gärtner und Kathrin Passig.

 

Wolfgang Herrndorf konnte diesen Roman nicht mehr zu Ende schreiben. Die Herausgeber gestalteten aus dem Vorhandenen und diversen Notizen einen Roman. Nicht nach Art von Germanisten (das lehnte Herrndorf testamentarisch ab) mit Varianten, Anmerkungen und Kommentaren, sondern so, dass durch Anordnen und Zusammenfügen ein durchgängiger Text entstand. In diesem finden sich Widersprüche, Ungereimtheiten, Unfertiges - das nimmt dem Roman aber nichts von seinem Zauber.

Es ist ein wunderbarer Roman geworden, der seinen Platz unter den großen unvollendeten Stücken einnehmen wird.

 

Die Hauptfigur, die in der Ich-Form erzählt, ist Isa.

Allen Lesern des Romans "Tschick" ist das "Müllmädchen" in Erinnerung geblieben. Maik und Tschick lernen sie auf der Müllhalde kennen, als sie nach einem Schlauch suchen, um Benzin zu stehlen. Sie müssen ihren geklauten Lada betanken, um ihre Reise in die Walachei (eigentlich zu sich selbst) fortsetzen zu können.

Isa hilft ihnen, sie weiß, wie man so etwas macht.

 

Diese Passage lautet im aktuellen Roman so:

"Hinten am Parkplatz versuchen die Jungs, mit ihrem Schlauch Benzin aus einem geparkten Golf zu zapfen.

Aber sie sind zu blöd dazu. Ich gehe hin und zeige es ihnen."

 

Isa ist ganz am Anfang der Geschichte aus der Klapse abgehauen. Sie begibt sich zu Fuß in die Welt, das langsame Pendant zur Roadnovel per Lada.

Sie wandert durch Wälder und Felder, durch ein halb kaputtes Industriedeutschland mit wunderbarer Natur, klaut sich Essen im Supermarkt, fährt auf einem Binnenschiff und in einem Schweinetransporter mit, unterhält sich mit einem taubstummen Kind, überlegt, wie ihr Leben als Roman verlaufen wäre, findet ein erschossenes Reh mit darüber liegendem toten Mann im Wald, mäht einem Schriftsteller den Rasen, erinnert sich an Mutproben aus der Kindheit, erzählt einem Unbekannten, sie käme vom Planeten Trastámara, legt schließlich ihre schützenden Hände über Maik. Sie denkt, träumt, erlebt noch viel mehr, das Büchlein ist ein Füllhorn an Phantasie.

 

Isa ist eine völlig unzuverlässige Erzählerin - und das liegt sicher nicht nur daran, dass Herrndorf nicht mehr in der Lage war, die Geschichte zu glätten und einen logischen Hergang zu erarbeiten.

So erzählt sie an einer Stelle, ihr Vater sei tot, von einem Meteoriten erschlagen, später überlegt sie, ob er sich wohl Sorgen um sie macht. Ihre Unterhaltung mit dem taubstummen Kind dürfte auch eher ihrer Phantasie entspringen. Andererseits: sie liest die Antworten in seinem Gesicht.

 

Sie ist sehr "diesseitig", kennt sich aus mit Laden- und Benzindiebstahl. Genüsslich reibt sie dem Herrn Schriftsteller seine Eitelkeit und Dummheit unter die Nase. Sie ist eine gute Zuhörerin, die andere Menschen, Männer (denn Frauen begegnet sie nicht), zum Erzählen bringt.

Ohne sie wörtlich dazu aufzufordern.

So gesteht ihr der Kapitän des Schiffes, er sei ein berühmter Bankräuber, das hat er noch keinem Menschen erzählt.

Ein älterer Bauarbeiter spricht mit ihr über die Zeit und ihr Vergehen, ein Phänomen, von dem er annimmt, Isa wisse darüber noch nicht Bescheid.

 

Doch Isa ist nicht nur das vierzehnjährige Mädchen, das als Landstreicherin unterwegs ist. Sie ist eine Person, die das tiefe Wissen und die gelebte Erfahrung eines alten Menschen in sich trägt. Sie ist keine Kindfrau, wie man sie in der Literatur antrifft, sie ist eine lebendig Suchende und eine,

die das Ende kennt. Das ist keine Frage des Alters.

 

Barfuß ist Isa unterwegs - dies ist nicht die einzige biblische Anspielung des Romans. Schon ihr Name lässt aufhorchen: Isa ibn Maryam, Jesus Sohn der Maria, ist die arabische Bezeichnung für Jesus Christus, wobei im Koran Jesus als Gesandter Gottes und Prophet betrachtet wird, nicht als Gottes Sohn. Isas wichtigstes Attribut ist ihr Tagebuch, dieses verliert sie nie. Sie trägt diese Schrift gut geschützt in der Hosentasche stets nah bei sich. 

Isa hat die Aura einer modernen Mignon oder einer Figur aus einem Märchen, manchmal scheint sie ein Engel zu sein.

 

"Zuerst beuge ich mich zum Russen hinunter, dann hocke ich mich vor den Blonden. Meine Knie berühren fast seinen Kopf. So bleibe ich lange und sehe ihn an. Sein Gesicht ist nachtbleich und friedlich und säuglingshaft, fast wie ein Mädchen sieht er aus. Ich mache magische Bewegungen, ich halte meine Hände über seine Stirn, über die Schläfen, über die geschlossenen Augen mit den langen Wimpern. Ich spüre seine Körperwärme in meinen Handflächen. Er spürt es nicht. Lautlos geborgen im Schutz meiner Hände und der schirmenden Nacht liegt er da.

   Ich esse die letzten Haribo, die braunschwarzbraunen Lakritzen, die mag ich am liebsten."

 

So nahtlos schwenkt sie um, deshalb ist die Geschichte auch nie rührselig, berührend ist sie sehr wohl. Isa ist nicht romantisch, hat ihre Wurzeln aber in in einer anderen Zeit als der unseren. Sie sucht auch nicht nach einer eigenen Ordnung (mit der allgemeinen Ordnung hat sie sichtbar Probleme), eher nach einem Raum. Einem, den sie mit sich tragen kann.

 

"Ich wäre wahrscheinlich auch an dem Mann vorbeigekommen, aber aus dem Fenster steigen ist mir sowieso lieber. Geht man durch die Tür, dann geht man in die Alltagswelt mit ihren Gewohnheiten und ihrem Schmutz. Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern.... Manchmal bin ich ein Adler."

 

Die Form der Roadnovel mit ihren aneinander gereihten Episoden kam Herrndorf beim Schreiben entgegen. Seine Erkrankung (Hirntumor) war schon so weit fortgeschritten, dass er nur noch sehr eingeschränkt arbeiten konnte.

In seinem Blog "Arbeit und Struktur" schreibt er, diese Form stricke sich quasi nebenbei. So einfach war es sicher nicht, es liest sich jedenfalls nicht wie nebenbei erledigt.

 

Er hat eine sehr poetische Figur geschaffen, die ihn vielleicht begleitet hat, nicht nur als Romanfigur.

Sie denkt immer wieder über den Tod nach, weiß auch, wie sie sterben möchte.

"Ich denke darüber nach, habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde. Ich würde Tabletten schlucken und mich dann auf den Rand eines Hochhauses setzten, damit ich runterfiele, wenn ich müde bin. Das wollte ich schon mit fünf. Ich meine, ich wusste, dass ich so sterben will: fallen."

 

Die letzte Szene: Isa schießt mit der P8 eine Kugel in die Luft. "Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe."

 

Als der Autor dies schreibt, hat er sich schon eine Pistole besorgt und sich kundig gemacht, wie genau man schießen muss, um garantiert zu sterben. Er erschoss sich, kurz nachdem endgültig beschlossen worden war, den Isa-Roman zu veröffentlichen. Er wollte sein Leiden selbstbestimmt beenden.

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Doch es wäre falsch zu sagen, es sei ein vom Tod umwehtes Buch, oder seine Tiefe käme alleine daher.

Isa ist traurig und nachdenklich, Isa ist rotzfrech und eigenwillig, sogar ihre Entjungferung nimmt sie in die eigenen Hände. Das will sie nun doch keinem dummen Jungen überlassen.

Verklärt wird Isa jedenfalls nicht dargestellt.

 

Der Titel - vom Autor selbst festgelegt - gibt Rätsel auf.

Wen spricht er mit "deiner" an?

Isa? Dann wäre ihre Liebe das Leben, denn das wird erzählt. Maik? Der sich sofort in sie verliebt, eine Liebesgeschichte entwickelt sich nicht. Isa geht weg.

Sich selbst? Er hat sich in den Roman als Mann mit grüner Trainingsjacke hineingeschrieben, der Isa auf dem Friedhof begegnet. Sie könnte seine Freundin sein, dieses Kind, das so viel vom Leben und Sterben weiß. Oder seine Schwester.

 

Herrndorf ist ein ganz großer Erneuerer der Literatur. 

Sein Ton ist frisch und unsentimental, keine plumpe Nachahmung von Jugendsprache, keine mühsamen Witze, keine Oberflächlichkeiten unterlaufen ihm. Weder in diesem Buch, noch in den vorausgehenden.

Er hat einen Roman verfasst, dessen Sprache poetisch ist und viel mehr erzählt, als eine Geschichte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe

Ein unvollendeter Roman

Herausgegeben von Marcus Gärtner und Kathrin Passig

Rowohlt Verlag, 2014, 144 Seiten

Rowohlt Taschenbuch, 2015, 144 Seiten