Jacqueline Moser - Wir sehen uns

Aus vielen kleinen Puzzleteilen besteht dieser feine Roman, der auf eine Hauptfigur verzichtet. Paare, Freunde und Verwandte sind die Protagonisten, die im Verlauf des einem Gemälde gleichenden Romans Strich für Strich an Kontur gewinnen. Jede Person wird für sich gezeichnet, außerdem ihre Verhältnisse untereinander beleuchtet. So entstehen lebendige Bilder des Alltags mit seinen Abgründen, Begegnungen,  Trennungen, Sehnsüchten und Ohnmachten.

 

Sie alle verbindet ein Haus. Es gehört der "alten, vornehm gekleideten Dame", die, wie auch ihre beiden Enkel Vesna und Jonas, in diesen Haus wohnt. Vor kurzem ist ihr Mann verstorben, der Bäckereiverkäuferin erzählt sie, "sie habe eine Tochter, diese lebe in New York, ... und sie habe zwei Enkelkinder". "Dann sind sie zum guten Glück nicht ganz alleine", erwidert die Verkäuferin. "Die alte Dame nickt und zuckt mit den Schultern."

 

Der Ton ist zurückhaltend, aber ausdrucksstark. Ein kleines Schulterzucken kann eine ganze Lebenssituation umschrei-ben - die Art, mit solch kurzen Hinweisen viel zu erzählen, beherrscht Jacqueline Moser perfekt. 

 

Da ist María José, die sich von Julian trennen und nach Spanien zurückkehren möchte. Sie arbeitet zunächst als Bedienung, erleidet bei der Arbeit einen Ohnmachtsanfall, bei dem "sie an den Tod" denkt. Fast passiert das wieder, als sie, nun Reinigungskraft im Krankenhaus, plötzlich "eine unerträgliche Hitze" in sich aufsteigen spürt und sie sich gerade noch fangen kann. Sie öffnet ein Fenster und flüstert in den Himmel: "nach Hause ... quiero volver a Espana". 

Die Ohnmacht kann sie abwenden, aber die Sehnsucht nach ihrer Heimat droht sie zu verschlingen.

 

Julian, von dem sie zu diesem Zeitpunkt bereits geschieden ist, leidet unter der Trennung und unter seiner Arbeit. Wie ein Automat erledigt er Termine, auch er würde gerne aus-brechen, doch wohin?

 

Seine Zwillingsschwester Julia arbeitet bei einer Versiche-rung. Ihre Mittagspause verbringt sie meist in der Mensa der Universität, wo sie mit Studierenden ins Gespräch kommt, ein willkommener Ausgleich zu ihrer langweiligen Arbeit. Sie wird Teil eines Filmzirkels, und sie ist zunehmend fasziniert von einem Mann, der ebenfalls dort isst und der so ganz anders ist als ihr Freund Jakob, ein Germanistikstudent.

 

Jakob wiederum kennt Vesna aus diversen Seminaren, der gut aussehende Mann ist Benedict, verheiratet mit Liv, einer Schwedin, die ihre Arbeit als Juristin aufgab, als sie Mutter wurde. Sie verbringt ihre Tage nun meist zu Hause, dem Haus der alten, vornehm gekleideten Dame, und sehnt sich nach einer Aufgabe, die über die Pflege des Babys hinausgeht.

 

Von einem Leben als Skipper in Neuseeland träumt Lucius, Benedicts Bruder, ein erfolgreicher Architekt. Seine Freundin Suzu möchte ihn jedoch nicht begleiten. Sie hat sich, nach-dem sie ihren Mann verlassen hat, ein eigenes Leben  aufgebaut, diesem möchte sie nicht den Rücken kehren.

 

Zwischen allen Personen besteht eine Verbindung. 

Sie ist auf den ersten Blick durch Verwandtschaft oder durch die Lebensumstände hergestellt, auf den zweiten Blick jedoch durch eine tiefe Sehnsucht oder zumindest Unsicher-heit, die in jedem wohnt. 

 

So wird aus den vielen kleinen Geschichten, deren Schwer-punkt jeweils eine der Figuren ist, das umfassende Bild eines Lebensgefühls, das durch Melancholie grundiert ist.

 

Nebst María José, die zusammen mit ihrer Tochter tatsäch-lich nach Spanien geht, der Sohn Paco bleibt bei Julian, und bei der noch nicht klar ist, ob der Neuanfang in der alten Heimat gelingen wird, gibt es nur eine Figur, die ausgebro-chen ist: Colette, die in New York lebende Tochter der alten Dame, Mutter Vesnas und Jonas. Bei einem Besuch in Basel ist sie froh, "das kalte, blitzblanke Haus in der Arnold Böcklin-Strasse" verlassen zu haben, schon beim Gedanken daran "überfällt Colette ein Unbehagen".

 

Doch auch sie erscheint bei einem Hausfest, zu dem Vesna eingeladen hat, und bei dem sich (fast) alle versammeln.

Wie auf einer Bühne sind all die Personen nun zu sehen, das Netz an Beziehungen wird sichtbar gemacht.

 

Wie in ihrem 2016 erschienenen Roman "Ich wünsche, wir begegneten uns neu", dessen Thema die Entfaltung einer Frau ist, porträtiert Jacqueline Moser auch in ihrem neuen Roman die Menschen auf zurückhaltende Art. Diese Zurückhaltung ist zugleich ein Angebot an die Leser:innen, an diesem Bild weiter zu malen, die Leerstellen oder Auslassungen in den Geschichten zu füllen, sich mit auf den Weg durch Basel zu machen.

An Basel als begangenem Lebens-Raum ist der Roman geknüpft. So wird er auch zum Porträt einer Stadt, die, wie ihre Bewohner, zwischen Festhalten und Aufbrechen schwankt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jacqueline Moser: Wir sehen uns

Edition 8, 2023, 128 Seiten