Jacqueline Moser -

Ich wünsche, wir begegneten uns neu

Überstürzt ist Ella mit ihrem Sohn Milo ausgezogen. Sie hat ihren Mann B., das gemeinsam gebaute Haus und ihr altes Leben als Grafikerin und Künstlerin zurück-gelassen. Nun lebt die Vierzig-jährige mit dem fünf Jahre alten Milo in einer großen Siedlung, bestehend aus Wohnblocks, einer für sie bisher undenkbaren Umgebung.

 

Ella hatte einen Anfall erlitten, dieser erschütterte sie in ihren Grundfesten. Die Trennung von B. war jedoch nicht Folge, sie war eher Konsequenz dieses Erlebnisses.

 

Als B., ein international erfolgreicher Künstler noch in Helsinki ist, packt Ella ihre Sachen und geht.

Der Roman beginnt mit einer Beschreibung des Wohnblocks und der kleinen Wohnung - mit Blick auf den Hügel, zu dessen Füßen sie vor kurzem noch wohnten. Sie denkt an

das schöne Haus und auch sofort an die Kompromisse und Punkte, an denen sie nachgegeben hat. Auch hier klafften ihre und Bs Vorstellungen auseinander.

 

Ella denkt oft an B. Er spukt in ihrem Kopf herum.

Es fallen ihr weniger Episoden aus dem vergangenen Leben ein, als Sätze, die B. (nie nennt sie den vollen Namen) irgendwann geäußert hat.

 

"Die Ehe ist ausgeschöpft." B.

"Du siehst wohl Gespenster." B.

"Bist du religiös oder was?" B.

 

Die vorherrschenden Gefühle sind nicht Wut, Enttäuschung oder Verzweiflung, es sind Kraftlosigkeit und Müdigkeit.

Wäre Milo nicht, der versorgt, unterhalten, in den Kinder-garten gebracht werden will/muss, sie käme nicht mehr aus dem Bett. 

 

In acht Teilen fächert Jacqueline Moser Ellas Leben auf.

Was beim ersten Lesen zunächst als ungeordnete Abfolge von Gedanken, Erinnerungen, Kreisen um das eigene Ich erscheint, zeigt bei näherer Betrachtung eine interessante Struktur.

 

Der erste Teil berichtet von Ellas Herkunft und Familie, von B., Milo, der Freundin Renée Eve, der lähmenden Schwäche, die ein normales Leben unmöglich macht.

In den folgenden Teilen liegt der Schwerpunkt auf Ellas Krankenhausaufenthalt und ihrer Müdigkeit (die auch als eine Müdigkeit an ihrem bisherigen Leben gelesen werden kann), dann geht sie näher auf ihre beiden Brüder Fabio und Lorenzo, beide erfolgreiche Ärzte, und die umtriebige Mutter Maria Sofia ein.

 

Die Mutter hat sich in den Kopf gesetzt, den Dachboden auszubauen. Deshalb liegt sie Ella in den Ohren, ihre alten Kartons, die noch dort lagern, abzuholen.

Ella will diese Kartons gar nicht, sie kann sich nicht mehr daran erinnern, was darin sein könnte. Außerdem erscheint ihr die Fahrt zur Mutter und das Zusammentreffen mit diversen Familienmitgliedern als viel zu anstrengend.

 

Sie fährt schließlich doch. Es ist so kräftezehrend wie sie es sich vorgestellt hat, und erschließt einen weiteren Kreis an Erinnerungen: an Riccardo, ihren ersten Ehemann.

 

Riccardo wird Ella später in ihrer Wohnung besuchen, sie essen zusammen - das ist für Ella ein Schritt in Richtung Leben. Zuvor war sie jedem Zusammensein mit wem auch immer ausgewichen. Egal, ob das eine der nervigen Kinder-gartenmütter, die Damen aus dem Haus oder eine ihrer alten Freundinnen war. 

 

Ella nimmt die Kartons mit nach Hause. Manch Unnützes kommt heraus, Dinge, bei denen sie sich fragt, warum sie sie aufbewahrt hat, aber es kommen auch Notizen, Hefte etc zum Vorschein, die sie an ihr Studium, die Zeit in dem besetzten Haus, den Beginn ihrer Freundschaft zu Renée Eve erinnern, die Anfänge mit Riccardo und B. - und es kommt ein kleines Büchlein über die Kunst des Papierfaltens aus einer der "Erinnerungsschachteln".

 

Hat sich Ella in den ersten vier Teilen des Buches verabschiedet von ihrer Vergangenheit, sich außer an Milo nur an der Natur, vor allem den gemeinsamen Spazier-gängen zum Fluss und an der Beobachtung der Vögel, erfreut, beginnt mit den Kartons vom Dachboden eine andere Art

der Erinnerung.

Sie fängt an, sich ihre Vergangenheit anzueignen. 

 

Und sie fängt an, Tiere zu falten. Faltet zusammen mit Milo und dessen Freundin Linlin die Grundformen, versucht sich dann an komplizierten Aufgaben.

Ihre Gedanken kreisen zunehmend um die Gestaltung der Tiere- bald sind es vor allem Vögel, später nur noch Enten.

 

Waren die Kapitel unterteilt in Rückblicke in verschiedene Phasen des Lebens (vier Jahre zuvor, zehn Jahre zuvor, achtzehn Jahre zuvor, vier Monate zuvor etc.) gibt der letzte Teil einen Ausblick in die Zukunft: "...fünf Jahre später".

 

Ella hat wieder Fuß gefasst im Leben. Die Beschäftigung mit der Faltkunst war eine Hinwendung zur Struktur.

Zu Präzision, Phantasie, zum Experimentieren, zur Schönheit und Harmonie, und sie war verbunden mit der Hinwendung zu anderen Menschen.

Diese ergab sich nicht aus der Tätigkeit an sich, aber aus ihrer neuen Sicht auf das Leben.

 

Jacqueline Mosers Kunst besteht darin, sich ihrer Heldin sehr langsam anzunähern. Ihr den Raum zu geben, sich zu entwickeln. In einseitigen Notaten, kaum einmal, dass die Sequenzen, aus denen sie den Roman komponiert, länger sind, entwickelt sie eine tiefe Sicht in den Menschen Ella. Durch die gelungene Verschränkung der Zeitebenen, die vorsichtige Setzung von Schwerpunkten der Betrachtung in den einzelnen Teilen und das ruhige Fortschreiten gelingt

ihr ein Roman, der eine wörtlich zu nehmende Entfaltung darstellt. Leise, präzise und befreiend.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jacqueline Moser: Ich wünsche, wir begegneten uns neu

bilgerverlag, 2017, 363 Seiten