Olga Tokarczuk - Letzte Geschichten

Ein Roman bestehend aus drei Teilen, drei Generationen Frauen: Parka, die älteste. Deren Tochter Ida und die Enkelin Maja, dreiunddreißig, Mutter eines elfjährigen Jungen. Sie alle werden mit dem Tod konfrontiert, ist es merkwürdig zu sagen: erleben ihn? Die unvergleichliche Olga Tokarczuk erzählt vom Leben, zu dem der Tod gehört. So poetisch, wie nur die Nobelpreisträgerin des Jahres 2018 es                                                    kann.

 

Ida, Mitte fünfzig, Reiseleiterin, fährt mit einem geliehenen Auto durch eine spätwinterliche Landschaft. Sie möchte noch einmal das Haus sehen, in dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Es liegt hoch oben am Berg, vielleicht steht es gar nicht mehr. 

Sie kommt von der verschneiten Straße ab, landet sehr unsanft in einer Böschung. Aber sie kann herausklettern, fühlt sich einigermaßen in Ordnung.

Sie wandert durch Nebel und Dunkelheit, bis sie zum Rand eines Dorfes kommt, um dort am ersten Haus anzuklopfen.

Sie wird freundlich empfangen, man bietet ihr Quartier für die Nacht.

Ida bleibt länger.

 

Die Zeit dehnt und zieht sich, konzentriert sich - beim Lesen kam mir das Zeitgefühl völlig abhanden. Ob Idas Aufenthalt kurz ist oder lang, er ist intensiv angefüllt mit Gedanken, Träumen und einer Vision. 

 

Sie erlebt den Sterbeprozess von Tieren, denn sie ist in einer  letzten Stätte für kranke oder betagte Tiere gelandet.

Sie begegnet ihrer längst toten Mutter Parka auf einer Bergwanderung. Einem Berg, der aus Abraum aufgeschüttet wurde.

 

"Dieser Berg musste demnach eine unterirdische Entsprechung haben, sein Gegenstück, eine Bergmulde, einen leeren Raum. Ida stellt ihn sich in genau dieser Kegelform vor, umwunden von der aufsteigenden Wegspirale, nur dass dort, unter der Erde, der Gipfel nach unten zeigt und der Weg hinabführt, anstatt sich hinaufzuwinden. Dieser unterirdische Gegenberg ist aus Leere gebaut und strebt zum Inneren der Erde, er hängt

von der Unterseite der Erdoberfläche wie ein Tropfen Nichts, wie ein Stalaktit aus Leere. Wer an den Hängen der Halde hinaufsteigt, geht gleichzeitig nach unten, er ist zwei Personen. Der Körper steigt am Hang des Positivs nach oben, dem Himmel zu, der Körperlose, der aus Leere besteht, strebt nach unten, der Erdmitte zu."

 

Ein langes Zitat. Es veranschaulicht den Stil Tokarczuks und benennt mehrere ihrer Themen, die sie nicht nur in diesem Buch auffächert: der Körper und die Frage: Wer ist ich?

Wer denkt über wen nach, wenn ich sage, ich denke über mich nach. Dann bin ich Betrachter und Betrachteter - im Zitat ist auch von den "zwei Personen" zu lesen, diese tauchen in Tokarczuks Werk ebenfalls immer wieder auf.

Wie die zwei Leben: das vorgestellte und das tatsächlich gelebte.

 

Idas Rolle als Reiseleiterin beschreibt Olga Tokarczuk so:

"Sie ist Vermittlerin. Sie spricht im Namen von etwas Größerem, das viel verzweigt und kollektiv ist und eigentlich keine Grenzen hat."

 

Könnte das auch die Rolle/Aufgabe des Schriftstellers sein?

 

Idas Tochter Maja schreibt Reiseführer. Der dritte, ihr gewidmete Teil des Romans, er trägt die Überschrift "Der Magier", spielt in Malaysia. In einem Hotel, in dem sie mit ihrem Jungen wohnt, lernt sie einen totkranken Zauber-künstler kennen. Kurz meint sie, er könne ihr Vater sein, doch sie hält sich fern von diesem Mann, hält die Begegnungen kurz. Ihr Sohn hingegen lässt sich von ihm einige Tricks beibringen, er ist fasziniert von dieser Kunst.

 

"Weißt du, worauf die Magie beruht?, fragte er sie ...

Auf der Benennung dessen, was man sieht..."

 

Der Magier sagt Maja auf den Kopf zu, sie würde weglaufen. Deshalb sei sie so "mager, grau und bekümmert."

Eine Berührung seiner Hand findet sie "widerwärtig, voller Gewalt, dämonisch". 

 

Da ist er wieder, der Körper, vor dem man nicht davonlaufen kann.

Der von Schmerzen zerrissen werden kann (unglaublich gut ist die Beschreibung von Majas Geburt), der allergrößte Erfüllung beim Singen erfahren kann, oder die durch nichts zu füllende schwarze Leere nach dem Tod eines Kindes.

 

Dieses Schicksal ist Parka widerfahren. Ihre erste Tochter verstarb auf der Flucht aus dem Osten Richtung Westen. 

Diese `Reise´ hat sie nach Polen gebracht.

Eine ganz andere Art von Reise als die der Tochter und Enkelin.

 

Parka und ihr Mann Petro leben hoch am Berg. Jeden Winter sind sie eingeschneit, es gibt keinen Weg ins Tal hinunter oder herauf. Als Petro mit über neunzig stirbt, sieht Parka nur eine Möglichkeit, dies dem Dorf, der Welt, mitzuteilen: sie stampft die Buchstaben "PETRO IST TOT" in den Schnee.

Die Abschnitte dieses Kapitels tragen die einzelnen Buchstaben als Überschriften. Sinnbild der körperlichen Fassung des Geschehens? Das Abstrakte wird konkret?

 

Parka fragt sich: Wann beginnt das Alter? Wann beginnt ein Mensch zu sterben?

Während sie dies tut, rasiert sie den toten Petro, spricht mit ihm, hält seine Hand - als wäre er lebendig.

Dies ist kein Davonlaufen vor der Realität, es ist die Respektierung einer Erkenntnis:

"Man stirbt nicht so auf einmal, piff, und das war´s. Man muss dem Tod gestatten, sich im Körper niederzulassen, und das Leben muss ungehindert hinausfließen können, Tropfen um Tropfen, wie von einem Eiszapfen, der im blendenden Sonnenlicht schmilzt."

 

 

Indem Olga Tokarczuk über das Sterben nachdenkt, erzählt sie vom Leben. Von der Unendlichkeit, dem Körper, dem Sein in der Welt. Sie tut dies völlig ohne Pathos. 

Sie ist eine Dichterin, die Poesie und Prosa vereint, um eine Geschichte zu erzählen, die über sich selbst hinausweist.

 

 

Dass es eine so große Freude ist, den Roman zu lesen,

ist auch der Übersetzerin Esther Kinsky zu verdanken.

Ihr Können scheint grenzenlos.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten

Aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky

Kampa Verlag, 2020, 304 Seiten

(Originalausgabe 2004)

 

 

 

 

 

Eine Besprechung von Olga Tokarczuks Roman "Unrast" finden Sie hier