Tarjei Vesaas - Die Vögel

Die Geschichte von Mattis entführt in den norwegischen Wald. Mattis lebt mit seiner Schwester Hege in einem kleinen Häuschen zwischen Bäumen und einem See, in der Nähe sind einige Höfe, ein Dorf mit einem Kaufladen. Erschienen ist das Buch 1957, doch die Zeitgeschichte spiegelt sich nicht darin, es ist ganz auf die Natur und seine Hauptfigur konzentriert.

 

Drei Teile hat der Roman, drei große Ereignisse finden in dem Sommer statt, der hier erzählt wird.

Beginnend im Frühling mit dem Schnepfenstrich, dem Balzflug dieser langschnabeligen Vögel, der nun plötzlich direkt über dem Haus der Geschwister verläuft.

 

Hege lässt diese Tatsache ziemlich unberührt. Sie hat zu tun. Sie verdient den Lebensunterhalt für beide mit dem Stricken von Jacken, sie führt den Haushalt, sie kümmert sich um den drei Jahre jüngeren Bruder. Vierzig ist sie nun, sie erwartet nicht mehr viel vom Leben, ist froh, wenn Mattis keinen Unfug macht.

 

Dieser ist ein Träumer, ein Mann, dem niemand Arbeit gibt, weil er schon mit Unkraut jäten Schwierigkeiten hat. 

Doch Hege erfindet quasi eine Arbeit für ihn: er soll mit dem Boot rausfahren und sich als Fährmann verdingen.

Das macht Mattis. Er hat ein altes, schon leicht morsches Boot, das richtet er notdürftig her und geht jeden Tag zur Arbeit. Dass niemand seine Dienste in Anspruch nimmt, ist zweitrangig. Er hat nun eine Aufgabe, fühlt sich gebraucht.

Diesem Abschnitt seines Lebens ist der zweite Teil gewidmet.

 

Einen einzigen Mann fährt er über den See, einen Holzfäller, der Arbeit und Unterkunft in der Gegend sucht.

Mattis bietet ihm ein Zimmer bei sich und Hege an. 

Hege ist einverstanden, Jorgen bleibt. Die beiden werden ein Paar, was Mattis zuerst in Verwirrung, dann in Verzweiflung stürzt, er fragt sich, wo er denn bleiben soll, nachdem er Hege "verloren" hat.

Sehr dramatisch verläuft dieser dritte Part des Romans, die Ereignisse verdichten sich.

 

 

"Jetzt wird alles anders", dachte Mattis, nachdem er den Schnepfenflug über seinem Haus gesehen hatte. 

"Jetzt, wo sich etwas so Freudevolles ereignet hatte, brauchte man ja wohl nicht mehr den beschwerlichen Gang ins Dorf auf sich zu nehmen und um Arbeit zu bitten."

 

Die Flugbahn der Vögel bleibt für Mattis als Strich am Himmel sichtbar. Die Welt hat sich verändert.

Sie verändert sich auch, wenn er "scharfkantige Wörter" verwendet, sie können verletzen.

 

Mattis ist ein kindlicher Kopf, dauernd sucht er nach Worten. 

Glücklich ist er, als er zwei Mädchen über den See rudern darf, dieses Ereignis bringt Hege auf die Idee, er könne Fährmann sein, weil er das so gut bewältigt hat.

 

"Na, da hast du was erlebt, Mattis", sagte ein Junge, der das Boot hatte anlegen sehen. "Ruderst du die nochmal? - Kann schon sein. ...

Er glaubte das selbst. Kaum hatte er es gesagt, schon war es die Wahrheit. Warum sollte es da nicht noch mal geben können?"

 

Die Welt aus Worten erschaffen, ist eines der Themen, die den Roman konstruieren.

Sprache und Wirklichkeit, für Mattis sind sie eines.

Unablässig sucht er die Verbindung der Dinge, das richtige Wort, er träumt und taucht in verborgene Ebenen ab, er versucht, sich verständlich zu machen.

Der Tastende und Suchende lebt in seiner eigenen Welt - zugleich tut er das gar nicht, so intensiv, wie er alles um sich herum erlebt. Er ist so sehr Wahrnehmung, dies alles in verständliche Worte zu fassen und mitzuteilen ist kaum machbar.

 

Tarjej Vesaas, der die Grenzen des Sagbaren auslotet mit seinem Helden, der nicht in die Zeit passt - der in keine Zeit gepasst hätte - lässt ihn Dinge sagen, die wie Gedichte klingen. Und er lässt ihn unbeantwortbare Fragen stellen, beispielsweise: "Warum ist es so, wie es ist?" 

 

Der Roman ist beeindruckend gut komponiert. 

Der Balzflug kündigt die Liebe an, ebenso ein junges Liebespaar, mit dem Mattis einen Tag lang Seite an Seite auf dem Feld arbeitet.

Ein Blitz zertrümmert die Hälfte einer zweistämmigen Espe, die alle im Dorf  "Mattis-und-Hege" nennen - hier wird eine Gemeinschaft gesprengt, aber wem von den beiden gilt die "Todesdrohung"? 

Immer wieder greift der Himmel in das Geschehen ein, in Form eines Gewitters oder eines Windes.

Alles verknüpft sich miteinander in diesem Roman. 

Aus kleinen Ereignissen speisen sich die großen, keines ist bedeutungslos. Mattis, der Simplicius, das große Kind, der Einsame unter den Menschen, vereint die Welt in sich.

 

Am Ende legt Mattis sein Leben in die Hände des Sees:

"Damit habe ich nichts zu schaffen, das liegt bei anderen.

Ich hab es aus der Hand gegeben!", sagt er zum Mond. 

 

 

"Der Leser taucht dank der poetischen Sprache, der starken Bilder und der suggestiven Kraft der Sprache Vesaas´ ganz tief in die Figuren und in das Geschehen ein."

Diese Worte schrieb ich in der Rezension des Buches "Das Eis-Schloss" von Tarjej Vesaas - diese Aussage gilt genauso für "Die Vögel". 

 

 

Zu erwähnen sind noch das schöne und erhellende Nachwort der Schriftstellerin Judith Hermann, sowie die feine und klangvolle Übersetzung Heinrich Schmidt-Henkels, der nach eigener Aussage "den Werkzeugkasten bis ganz unten ausgepackt" hat, um diesen auf Nynorsk verfassten Roman zu übertragen.

 

Schön, dass nun beide Romane Tarjei Vesaas (1897-1970)

auf Deutsch gelesen werden können!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tarjei Vesaas: Die Vögel

Übersetzt von Heinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort von Judith Hermann

Guggolz Verlag, 2020, 279 Seiten

(Originalausgabe 1957)