Geoff Rodoreda - George Orwell in Stuttgart / Nürnberg /
Köln - Kriegsreporter im Zeichen von 1984

"Wenn man durch die zerstörten Städte Deutschlands geht, spürt man einen echten Zweifel an der Kontinuität der Zivilisation", so George Orwell.
"Dies ist eine Anklage der Gegenwart und der Zukunft, düster und verzweifelt. Man könnte es sogar als dystopisches Denken bezeichnen. In der Tat offenbart die Aussage ein Gefühl der Trostlosigkeit, das in Orwells letztem Roman, 1984, mitschwingt: Der Protagonist Winston wandert durch ein zerstörtes, zerbombtes London der Zukunft und verzweifelt an der Zivilisation und dem zivilisierten Verhalten, wie er es zu kennen glaubte. Damit soll nicht behauptet werden, dass die unerbittlich harte Welt, die Orwell für 1984 erschaffen hat, in erster Linie im kriegs-gebeutelten Deutschland erfunden wurde. Aber Orwells Erfahrungen in Deutschland und seine Gedanken über den Zustand der Welt fließen auf verschiedene Weise in 1984 mit ein."
Dies ist die Kernaussage des Buches, für das der in Stuttgart lebende und lehrende Literaturwissenschaftler Geoff Rodoreda sehr gründlich recherchierte.
Er geht ein auf Herkunft, Leben und Werdegang des Welt-literaten, der seinen Ruhm nicht mehr genießen konnte.
Kein Jahr nach Erscheinen von 1984 verstarb George Orwell 1950 in London, er wurde nur 47 Jahre alt.
Bis zu seinem ersten berühmt gewordenen Roman Farm der Tiere (1945) war er vor allem als Journalist, Essayist und Reporter bekannt, bzw. mit seinem Schreiben für diverse Zeitungen und Journale bestritt er seinen Lebensunterhalt.
Als Reporter kommt Orwell Mitte Februar 1945 nach Paris. Die im August 1944 befreite Stadt diente "als Stützpunkt" für Kriegsberichterstatter, von dort aus wurden sie an die Front gebracht.
Circa vier Wochen später erreicht er zum ersten Mal deutschen Boden und ist zutiefst erschüttert:
"Er hat die Zerstörung gesehen, die aus der Luft über ... englische Städte gebracht wurde. Aber was er in Köln sieht, verblasst demgegenüber."
In einer weiteren Reise als eingebetteter Journalist kommt er im April Nürnberg nahe, erreicht die Stadt jedoch vermutlich nicht. Aber die Fahrt übers Land gibt ihm Einblicke in das Leben der Bauern, an denen der Krieg weitgehend vorbei gegangen zu sein scheint. Sie haben ihre Arbeit, ihre Routinen, das Land litt weit weniger unter dem Krieg als die großen Städte.
Von dort aus gelangt er am 22. April nach Stuttgart, wo er drei Tage lang das Chaos erlebt. Ohne Absprache mit den Amerikanern waren französische Truppen in die Stadt eingedrungen, ohne über die militärische Macht zu verfügen, Ordnung zu schaffen und zu erhalten.
"Es kam zu schrecklichen Plünderungen, Ausschreitungen von Betrunkenen, gewalttätigen Übergriffen auf öffentliches und privates Eigentum und auf Zivilisten, insbesondere auf Frauen. Berichten zufolge wurden in den Tagen nach der Einnahme Stuttgarts Tausende von Frauen vergewaltigt."
In einem Artikel für den Observer zeichnet er diese Tage nach - und seine Eindrücke der zerstörten Stadt fließen in den Roman 1984 genauso ein, wie die der ländlichen Ruhe in Franken. Denn Winston, der Protagonist des Romans, findet nur in der Natur, die hier der englischen gleicht, etwas Erholung.
Orwell analysiert und kritisiert auch das Agieren der Alliierten und zeigt scharf- und weitsichtig die Folgen für Europa und die Welt auf. Eine Aufteilung in Blöcke ist Teil der Welt in 1984 - diese Teilung ist schon in der Politik angelegt, die von den Alliierten gemacht wurde.
Weiter zurückgehend sieht Orwell ganz klar die Rolle der Propaganda - Wie wurde Deutschland zum Naziland?, Naziführer könnten Vorbilder für die Machthaber in 1984 sein.
Und: "Es steht ... fest, dass eine von Orwells ersten Taten nach seiner Rückkehr nach England darin bestand, den Anfang von 1984 zu verfassen."
Die kürzlich gemachten Erfahrungen MÜSSEN mit eingeflossen sein.
Viele Mosaiksteine trägt Geoff Rodoreda zusammen, um seine These, das zerstörte Deutschland und insbesondere die Erfahrungen in Stuttgart, könnten Inspiration für Orwells Roman gewesen sein, zu untermauern.
Dabei zeichnet er ein lebendiges Bild, sowohl des Schrift-stellers George Orwell, als auch der Stadt Stuttgart und des Kriegsendes vor achtzig Jahren. Das Buch liest sich flüssig, die Ausführungen sind hochinteressant, nicht nur für Orwell-Kenner.
Rodoreda füllt eine Lücke in der Forschung, zugleich bringt er den Lesenden eine Zeit nahe, die nur scheinbar lange zurück liegt.
Und, ganz wichtig, er führt vor Augen, dass auch die Fiktion ihre Wurzeln in der Realität hat!
Geoff Rodoreda: George Orwell in Stuttgart / Nürnberg / Köln - Kriegsreporter im Zeichen von 1984
8grad Verlag, 2025, 168 Seiten