Ré Soupault - Kaffee mit Croissant in Avignon
Reisetagebuch

"Meine Reise ist also beendet. Phantas-tischste Reise meines Lebens, glaube ich. Nach innen, nicht nach aussen."
Mit diesem Fazit endet das Reisetage-buch einer Frau, die zuvor schon viele weite Reisen in alle Welt unternommen hatte. Die in verschiedenen Ländern gelebt und gearbeitet hatte - nun fuhr sie in sechs Wochen, in Mai und Juni 1951, von Avignon nach Basel.
Mit einem Velosolex, einem Fahrrad mit Hilfsmotor, das die Fahrerin mit 0,4 PS auf der 750 km langen Strecke unter-stütze.
Auf Einladung ihrer Freundin Ilse Langner, einer Journalistin und Schriftstellerin, reiste Ré Soupault Ende April 1951 nach Avignon, mit dem Zug von Basel aus, wo Ré Soupault von 1948-58 lebte.
Ein Jahr nach Kriegsende war sie aus ihrem Exil in New York nach Paris zurückgekehrt, hatte wenig Glück und ging zurück in die Vereinigeten Staaten. Doch auch dort war es schwierig, den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie traf die Entscheidung, es wieder in Paris zu versuchen, schließlich zog sie nach Basel, wo sie als Übersetzerin zu arbeiten begann.
Außerdem studierte sie dort bei Karl Jaspers, einer prägen-den Erfahrung, wie sie immer wieder betonte.
Ré Soupault ist eine mutige und unvoreingenommene Reisende. Sie fährt alleine, immer wieder auf schlechten
oder unsicheren Straßen, immer wieder gibt es Probleme mit dem Motor, den Reifen, es gibt Tage, an denen sie mehrere Regengüsse aushalten muss. Sie ist auf günstige Hotels und Mahlzeiten angewiesen, ihr Budget ist schmal.
Doch wie groß ihre Freude an den Farben der Provence, den üppigen Pflanzen, dem "Leben auf den Strassen" in Avignon:
"Besonders nach Basel! Eine andere Welt! Macht Halt in Avignon! In keiner anderen Stadt Westeuropas scheint mir die Vergangenheit so lebendig zu sein wie in A. Alle Zivilisationen, die unsere Geschichte kennt, sind hier vorübergegangen u. haben ihre Spuren hinterlassen. Alle Mittelmeerkulturen."
Bei einem Stadtrundgang entdeckt sie eine kleine Bäckerei, gönnt sich "Kaffee mit Croissant" und stellt fest, dass diese ihr "am meisten gefehlt hatten während all der Hungerjahre."
"Dann sind sie sehr bescheiden, Madame", bemerkt die Bäckersfrau.
Das ist sie: "Geistige Nahrung ist mir wichtiger als alles andere. Ich kann auf vieles heute verzichten, was äusser-licher Natur ist."
Sie kommt ohne warmes Wasser aus, schätzt den Charme einer Unterkunft, auch wenn diese alles andere als sauber ist. Sie reist mit minimalem Gespäck und konzentriert sich ganz auf ihre Umgebung. Diese nimmt sie mit unvoreingenomme-nem, wohlwollenden Blick auf.
Ré Soupault beschreibt Landschaften, Architektur und Kunst, reflektiert die Begegnungen mit Menschen, stellt fest, wie freundlich und gütig die Leute hier sind.
In all diese Beobachtungen streut sie ihre Überlegungen,
die sie selbst und ihre Zukunft betreffen.
In jeder Stadt, in jedem Dorf hält sie Ausschau nach einem leerstehenden Haus, das sie kaufen könnte. Es gibt günstige Häuser, die man herrichten könnte, doch einmal ist die Gegend zu feucht, dann wieder zu abgelegen, es fehlt der Blick - im Inneren ist sie zerrissen, ob sie wirklich hier leben möchte, ob sie sich überhaupt Besitz aneignen, sich binden möchte.
"Die `Heimatlosigkeit´ ist Teil unseres Menschseins. Auch die Entwicklung der Menschheit geht in die Richtung `Heimat-losigkeit´. ... Man versteht, dass die Sorgen die Freude am Besitz weit übersteigen. Und so nähert man sich einem realitätsnäheren Leben, weiter entfernt vom Schein und näher an der Realität eines direkten und vernünftigeren Lebens."
Diesen vernünftigen Gedanken steht ihr Gefühl entgegen:
"Fühle mich fiebrig u. rastlos. Weil ich am Ende einer Etappe die Heimatlosigkeit doppelt spüre. Jeder Mensch kehrt gerne heim. Und ich kann nie heimkehren, weil ich kein Heim habe. Es ist also ganz gleich, ob heute hier oder dort. ... Draussen, die Landstrasse ist meine Heimat. Und doch fürchte ich sie, weil ich müde bin."
Ré Soupault, deren Leben reich an Wendepunkten ist, die 1901 als Meta Erna Niemeyer in Pommern zur Welt kam, deren Weg über das Studium am Weimarer Bauhaus über Berlin, Paris, Tunis, New York und Basel immer wieder nach Paris führte, die viele Länder auf mehreren Kontinenten bereiste, die Malerin, Filmemacherin, Modedesignerin, Unternehmerin, Fotografin, Schriftstellerin, Übersetzerin und Radiojournalistin war, fügt so die Zeichnung eines modernen Menschen in das genaue Porträt der südfranzö-sischen Landschaft und ihrer Städte und Menschen in der Nachkriegszeit ein.
Die Müdigkeit, hervorgerufen durch die Anstrengungen, die die Zeit ihr auferlegte, zugleich ein "angeborener Optimis-mus", der sie aufrecht hält. Der Verlust der Heimat, den sie mit so vielen teilt, die Zerrissenheit, die dieser hervorruft, wird ergänzt durch den Blick nach vorn: Es wird weiter gehen.
Schon vom 8. September bis zum 16. Oktober 1951 unter-nimmt Ré Soupault eine weitere Reise mit ihrem Velosolex, festgehalten in dem Reisetagebuch Überall Verwüstung. Abends Kino. Sie fährt von Basel über Saarbrücken, Stuttgart und München, durch das Allgäu, entlang des Bodensees und durch den Schwarzwald zurück nach Basel eine Strecke von mehr als 1500 Kilometer. Sie lotet Möglichkeiten aus, mit ihrem Schreiben Geld verdienen zu können.
In den 2018 erschienenen Lebenserinnerungen Ré Soupaults "Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt" ist zu lesen:
"Es gibt zwei Wege im Leben: der eine führt nach außen: Karriere, Geltung, Besitz ... der andere nach innen: Arbeit, aber ohne Rücksicht auf äußeren Erfolg, schöpferische Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst findet. Der Gedanke richtet sich auf die geistigen Errungenschaften des Menschen, dem Forschen nach dem Sinn des Lebens. ...
Eine solche Lebenshaltung bestimmt zugleich den Umgang mit anderen Menschen: niemandem die eigene Erkenntnis aufdrängen, die Persönlichkeit des anderen anerkennen,
ihm mit Toleranz und Sympathie begegnen."
In ihrem schmalen Reisetagebuch "Kaffee mit Croissant in Avignon", in dem sie ihre "phantastischste Reise" beschreibt, finden sich all diese Gedanken bereits. Es ist ein schmales und zugleich großes Werk.
Ré Soupault: Kaffee mit Croissant in Avignon. Reisetagebuch
Herausgegeben von Manfred Metzner
Wunderhorn Verlag, 2025, 94 Seiten
Ré Soupaults literarisches und fotografisches Werk wird seit 1996 von Manfred Metzner, der den Nachlass verwaltet, im Verlag Das Wunderhorn herausgegeben.
Ein Verzeichnis findet sich auf der Website des Verlags.