Karl Ove Knausgard - Sterben

Der im Jahr 1968 geborene Autor hat eine Autobiographie verfasst, die in der deutschen Übersetzung auf 6 Bände verteilt erscheint. Bisher sind 5 Bände übersetzt, sie umfassen mehr als 3300 Seiten. Sterben, Lieben, Spielen, Leben und Träumen sind die Einzeltitel, im Original ist der Titel "Min Kamp" - dass die Bücher nicht unter diesem Namen erscheinen konnten, liegt auf der Hand.

 

"Das Leben ist ein Gampf", sagte die Großmutter immer.

Sie war als junge Frau Chauffeurin gewesen, die Aussage ist ein Zitat ihrer Chefin, die kein "K" aussprechen konnte.

Auf diesen Gedanken dürfte der Originaltitel zurückgehen.

 

Der Auftakt des ersten Bandes ist eine mechanistisch-naturwissenschaftliche Beschreibung des biologischen Vorganges "Sterben."  Sammlung des Blutes an der niedrigsten Stelle des Körpers, Sinken der Temperatur, Entleerung der Därme, Ausbreitung von Bakterien-schwärmen. Die Beobachtung, dass Leichen immer in Kellern, zumindest auf Erdbodenniveau, gelagert werden. Diesen materiellen Aspekten des Todes liegt die Imagination von "Offenheit und Leichtigkeit, Äther und Licht" gegenüber.

Körper und Geist, der alte Dualismus.

 

Hier weckt er den Eindruck,  dass die anfängliche Fixierung auf die Biologie den Sensenmann fernhalten soll, der so viel Macht über die Menschen hat. Der so viel mehr mitnimmt, als ein Skelett mit dazugehörigem Blutkreislauf.

 

Die erste Szene des Romans: Karl Ove ist acht, der Vater ist dreißig, als Karl Ove im Fernsehen eine Aufnahme der Meeresoberfläche sieht, nachdem vor kurzem ein Schiff dort gesunken ist. Er erkennt in den Wellen ein Gesicht, teilt dem Vater diese Beobachtung mit.

Dieser reagiert so vielschichtig ablehnend, dass bereits in dieser ersten Begegnung des Lesers mit dem Vater klar wird, wie kompliziert die Beziehung der beiden ist.

 

Es ist eine riesige Distanz da, der Junge kann sich niemals natürlich benehmen, immer überlegt er, wie er sich verhalten soll. Er liest in den Gesichtszügen und der Tonlage, der Körperhaltung und den Atemzügen des Vaters, ob es angebracht ist zu lächeln, zu schweigen, stehen zu bleiben oder wegzulaufen, den Kopf einzuziehen oder ob er zufällig etwas richtig gemacht hat. Er entwickelt "eine Art Meteorologie des Gemüts...", um herauszufinden, wie der Vater gelaunt ist.

 

Um Distanzen, das Finden des richtigen Abstandes, geht es im gesamten ersten Band. "Die Welt zu verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen."

 

Nicht ganz direkt, sondern über die Umwege des eigenen Lebens, das seines Bruders Yngve, das der Mutter und auch der Großmutter, nähert sich Karl Ove dem Vater an.

 

Diesem Mann, der mit Ende dreißig ein neues Leben anfängt. Die Eltern lassen sich scheiden, der Vater zieht mit seiner neuen Freundin zusammen, die beiden bekommen noch ein Kind. Der Vater empfängt plötzlich Besucher, veranstaltet kleine Partys - das gab es vorher absolut nicht. Karl Ove lernt Familienmitglieder kennen, von deren Existenz er bisher keine Ahnung hatte. Die Räume, die der Vater für sich alleine braucht scheinen kleiner geworden zu sein, die Abstände geringer. Der Abstand zum Sohn vergrößert sich jedoch.

 

Den größten Raum des ersten Teils nimmt jedoch Karl Ove selbst ein. Die Sorgen eines Pubertierenden mit der richtigen Clique, (Nicht)Einladungen zu Silvesterpartys, Mädchen, Musik, Schule, die Großeltern, bei denen Karl Ove mehr Zeit verbringt, als ihnen lieb ist, das Verhältnis zum älteren Bruder, Alkohol, die Mutter, mit der er sich gut versteht, die jedoch oft abwesend ist. Ist sie zu Hause, verändert sich die Atmosphäre, aber: "Vater war entscheidend für die Stimmung im Haus, keiner von uns hatte dem etwas entgegenzusetzen."

 

Teil zwei beginnt mit der aktuellen Zeit. Karl Ove ist Schriftsteller, hat ein Büro in Stockholm, ist zum zweiten Mal verheiratet. Seine jetzige Ehefrau Linda erwartet ein Kind.

Über Betrachtungen zum Schreiben und zur Kunst im allgemeinen kommt er auf Engel zu sprechen. Mit ihrer Doppelgestalt des Menschlichen und des Göttlichen führen sie ihn wieder zu den Gedanken über den Tod.

Und damit zu dem Ereignis, auf das er von Beginn an hinsteuert:

 

"Ich selbst war fast dreißig Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine Leiche sah. Es geschah im Sommer 1998, an einem Nachmittag im Juli, in einer Kapelle in Kristiansand. Mein Vater war gestorben. Er lag auf einem Tisch mitten im Raum, der Himmel war bewölkt, das Licht in dem Zimmer schummrig, auf dem Rasen vor dem Fenster fuhr ein Mäher langsam im Kreis. Ich war dort zusammen mit meinem Bruder. Der Bestatter war hinausgegangen, um uns mit dem Toten allein zu lassen, wir standen ein, zwei Meter von ihm entfernt und starrten ihn an."

 

Die nun folgenden 300 Seiten spielen an wenigen Tagen, die Yngve und Karl Ove zusammen im Haus ihrer Großmutter verbringen. Dort lebte der Vater in den letzten Jahren, dort starb er in einem Sessel sitzend, ungefähr fünfzigjährig.

Das Haus ist ein einziger Müllhaufen. Überall liegen stinkende Kleiderberge, dazwischen Flaschen, Flaschen und Flaschen. Der Vater war schwerer Alkoholiker, wie schwer wird den Brüdern erst jetzt klar. Sie hatten ihn zuletzt vor

ca. anderthalb Jahren gesehen, da hatte er es noch geschafft, sich zusammenzureißen. 

Die Großmutter, sie ist jetzt fünfundachtzig, sitzt am Tisch, starrt vor sich hin. Sie ist bis auf die Knochen abgemagert,

ist inkontinent und "ein bisschen schusselig." Das ist der Familieneuphemismus für senil.

Erst als Yngve klar wird, dass sie selbst Alkoholikerin ist und einen Drink möchte und sie diesen am 2. Tag auch bekommt, kommt wieder Leben in sie. Sie lacht, erzählt, gestikuliert -

es ist eine gruselige Szene, in der die drei Menschen in dem mittlerweile ansatzweise geputzten Haus sitzen und sich gemeinsam betrinken. Es hat etwas von Geisteraustreibung.

 

Da Knausgard permanent zwischen Beschreibung des aktuellen Geschehens, Erinnerungen an die Kindheit und Jugend und das Verhältnis zum Vater und darüber hinaus zu allgemeinen Betrachtungen diverser Fragestellungen wechselt, ist das Buch an keiner Stelle langweilig.

 

In jeder Rezension des Romanes wird hervorgehoben, dass er schonungslos offen ist, sowie Herausragendes und Alltägliches direkt nebeneinander stellt. Das stimmt, macht aber nicht allein die Faszination aus, die der Text ausübt.

 

Knausgard hat Literatur und Kunstgeschichte studiert.

Er schreibt an einer Stelle über seine erste Ehefrau (mit ihr war er zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters noch zusammen): "Sie war der sinnlichste Mensch, dem ich jemals begegnet war. Und nun war sie mit einem Menschen liiert, für den Mahlzeiten, Gemütlichkeit und Nähe bloß notwendige Übel waren." Das kann als unsinnlich gelesen werden. Doch das passt überhaupt nicht zu seinem Interesse an der Malerei, an der ihn vor allem die Gefühle interessieren, die sie in ihm auslöst. Und er ist ein sehr guter Beobachter, sprich, er geht mit offenen Sinnen durch die Welt.

 

"Was mich an diesen Bildern so beeindruckte, wusste ich nicht. Auffällig war jedoch, dass alle vor dem 20. Jahrhundert gemalt wurden, innerhalb jenes künstlerischen Paradigmas, das nie ganz den Rückbezug zur sichtbaren Realität verlor. Es gab folglich immer eine gewisse Objektivität in ihnen, will sagen einen Abstand zwischen Wirklichkeit und Abbildung der Wirklichkeit, und es musste dieser Raum sein, in dem es "geschah", in dem sichtbar wurde, was ich sah, wenn die Welt gleichsam aus der Welt hervortrat. Wenn man das Unbegreifliche in ihr nicht nur sah, sondern ihm zudem ganz nahe kam. Dem, was nicht sprach und von keinem Wort erreicht werden konnte, somit immer außerhalb unserer Reichweite, gleichwohl innerhalb ihrer lag, denn es umgab uns nicht nur, wir waren selbst ein Teil von ihm, bestanden selbst daraus."

 

Der Abstand zwischen Wirklichkeit und Abbildung der Wirklichkeit ist der Raum, der die nötige Distanz schafft,

um das Unbegreifliche sehen und ihm nahe kommen zu können. Diesem Unbegreiflichen, das außerhalb unserer Reichweite liegt, von dem wir aber ein Teil sind.

 

Ein Roman über Zwischenräume, Abstände, Distanzen.

 

Das Sterben und der Tod des Vaters sind eine Vermessung seines Lebens und auch die seiner Kinder, die mittlerweile selbst Väter sind. 

 

 

 

 

 

 

Karl Ove Knausgard: Sterben

Übersetzt von Paul Berf

Luchterhand Verlag, 2011, 576 Seiten

Taschenbuch btb, 2013, 576 Seiten

(Norwegische Originalausgabe 2009)