Christoph Geiser - Das Gefängnis der Wünsche

Dieser Roman vereint die Gedanken- und Lebenswelten zweier extrem unterschiedlicher Geister: die des Marquis de Sade (1740-1814) und die Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832). De Sade ist bekannt für seine gewaltpornografischen Romane, die durch lange philosophische Abhand-lungen unterbrochen werden. Und der Olympier Goethe steht für die Klassik: dem Wahren, Schönen und Guten verpflichtet. Wie bringt man diese beiden Männer zusammen?

 

Christoph Geisers Roman führt in die Keller und Kabinette, in die Irrenhäuser und Gefängnisse, in denen de Sade einen Großteil seines Lebens verbrachte. Der Freigeist lotet die Grenzen des Sagbaren, des Erträglichen aus. Er gibt sich der Völlerei, der ungezügelten Lust, den Gewaltphantasien hin, er verfasst Schriften auf Zetteln, die zu einer Rolle zusammengefügt wurden, er schreibt Romane, die jede Sittlichkeit sprengen. Er produziert Skandale, macht vor nichts und niemandem Halt.

 

Und Goethe? Der Staatsmann flieht aus Weimar nach Italien, um die Freiheit zu finden, die er in Weimar vermisst. Er wird erdrückt von unerfüllten Sehnsüchten, nicht ausgelebter Liebe, von der Enge der Kleinstadt und dem dort herrschen-den Geist.

 

Christoph Geiser geht sehr frei mit all dem um, was aus Werk und Biografie der beiden Männer gesichert ist. Er fügt Teile zusammen, erweitert sie, lässt seiner Phantasie freien Lauf. Er spitzt die zunächst gegensätzlich erscheinenden Denk-welten auf das Konzept des Dionysischen und Apollinischen zu. Dionysos, der Gott des Rausches, ist Sinnbild für einen alle Grenzen sprengenden Schöpferdrang, das Apollinische, angelehnt an den Gott Apoll, steht für Ordnung und Form.

 

Doch den "Sumpf" im Menschen hat auch das Streben nach Licht und Harmonie nicht überwunden. Auch Goethe ist nicht frei von all dem, was unter der glatten Oberfläche lauert, bereit ist, sich Bahn zu brechen.

Arbeit und Nützlichkeit, Vernunft und Mäßigung, Ökonomie und "gebundene Sprache", die Ablehnung alles Revolutionä-ren, Vulkanischen, Eruptiven, zugunsten des Evolutionären verhindern nicht das "Dämonische".

 

Auf dem Vesuv lässt Christoph Geiser die beiden Männer aufeinandertreffen:

 

"Denkbar immerhin! Der falsche Priester und der falsche Werther auf dem Vesuv, im Dampf aus den Erdrissen, im Aschenregen von oben, während es aus dem Erdinnern brodelnd grollt, und beide zählen: bis es kommt. Denn man kann zählen, wenn man den  Rhythmus kennt. Und bei aller Neugier - aller Gier - du vergisst das Zählen nie! - duckst dich rechtzeitig in die Vulkanasche, bevor es ringsum klappert von den großen Brocken, klimpert von den kleinen Bröckchen, hochgeschleudert aus den Eingeweiden des Erdinnern. An Steinigung gewöhnt. Du Sodomit. Geübt im Umgang mit Naturgewalten. Kein Umgang für den Knaben! Der dort am Kraterrand kniet und nicht weiß, was er in Händen hält, noch nicht."

 

Der sexuelle Unterton ist stets gegenwärtig, ob es um Bilder, Tat und Sprache, Religion, Goethes Morphologie, das Konzept der Scham, Männlichkeit, Weiblichkeit oder Andro-gynität geht, um Gewalt, Folter oder Konsumismus.

 

Ein Teil des Buches spielt im Berlin, zur Zeit des Mauerfalls. Der Autor lebte dort, arbeitete die plötzlich gefallene Grenze in seinen Roman ein. Das Endlosband de Sades wird mit dem "Abwickeln" der DDR assoziiert, die entstehenden Clubs mit den Kellern der Lust.

 

Und auch Franz Kafkas 1919 veröffentlichte Erzählung "In der Strafkolonie" findet ihren Eingang. In dieser schreibt eine Maschine mit Metallzacken dem Gefangenen seine Schuld buchstäblich in den Leib. Bis er stirbt.

 

Goethe verweilte gerne auf dem Ettersberg, wenige Kilometer von Weimar entfernt. Dort entstand 1937 das KZ Buchenwald mit der Inschrift "Jedem das Seine", ein hier pervertierter Grundsatz des Römischen Reiches. 

Diese Szene ist als Filmsequenz angelegt, es gibt höllische Grausamkeiten zu sehen.

Danach werden die Assoziationen immer freier und offensiver, stellenweise brutal. Von der Misshandlung Gefangener über einen Hinweis auf die Freundschaft zwischen Schiller und Goethe, auf die Farbenlehre und die Experimente mit Licht, bis zu weiteren Hinweisen auf de Sade, dem ein Rosenholz im Hintern steckt. 

 

Naturrecht versus Menschenrecht ist eine Linie, die sich durch den Roman zieht. Gefallene, gesprengte Grenzen und der Körper, dem nicht zu entkommen ist, weitere.

Jede:r Lesende wird in diesem vielschichtigen, assoziations-reichen, sehr freien Buch, in diesem Sprachrausch, weitere, andere, eigene finden.

 

Wem mag die Aufforderung "Küsse den Tod!" gelten?

Wer schwingt den Prügelstock?

 

"Du entkommst nicht!

... und du weißt es. In deinem Käfig, verdunkelt von der Sichtblende vorm vergitterten Fenster, in deinem eigenen Dreck, nackt, verschnürt, damit du dich nicht aufhängen kannst, während du auf den Tod wartest - 

Sehne dich nach dem Tod!

Küsse den Prügelstock! - der dich blaufleckig schlägt, schwarzfleckig, braunfleckig, violettfleckig, bevor er dich erschlägt.

Küsse den Tod!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Christoph Geiser: Das Gefängnis der Wünsche

Werkausgabe Band 5

Herausgegeben von Moritz Wagner und Julian Reidy

Mit einem Nachwort von Stefan Zweifel

Secession Verlag, 2023, 260 Seiten

(erstmals erschienen 1992 im Verlag Nagel & Kimche)