Jonas Lüscher - Frühling der Barbaren

Was ist Zivilisation?

Was ist Barbarei?

Ist der Zusammenbruch der Zivilisation zwangsläufig ein Rückfall in die Barbarei?

 

Die Novelle Lüschers wird von einem Ich-Erzähler, der namenlos bleibt und von dem nur angenommen werden kann, dass er sich momentan wegen Depressionen in einer psychiatrischen Klinik aufhält und Preising, dem Spazier-Freund jenes Herrn, erzählt.

Preising hat die Geschichte erlebt und berichtet nun davon, während das "Ich" den Informationsfluss in gang hält.

 

Preising, ein Schweizer mittleren Alters (oder auch schon etwas darüber hinaus), hat von seinem Vater eine Firma geerbt, die kurz vor dem Ruin stand. Doch er hat das Glück, einen findigen jungen Messtechniker, Sohn bosnischer Einwanderer, zu haben, der nicht nur eine bahnbrechende Erfindung macht, sondern auch generell die Zügel der Firma in die Hand nimmt. Dieser Mann, Prodanovic, verpasst dem Unternehmen den trendigen Namen Prixxing und kümmert sich hinter den Kulissen darum, dass der Laden läuft. Preising repräsentiert nach außen, die Qual, irgendwelche unternehmerischen Entscheidungen treffen zu müssen, bleibt ihm erspart.

 

Preising wird von Prodanovic nach Tunesien geschickt.

Ein Urlaub in einem Luxus-Resort lässt sich trefflich mit der Pflege von Geschäftsverbindungen kombinieren. Preising berichtet zuerst etwas erstaunt über das, was er in Tunis sieht (flinke Kinderhände stecken die Schaltungen zusammen, die seine Firma mit Schweizer Präzision herstellen lässt), oder das, was er erlebt. So bietet ihm z.B. ein Mann, der mit Prixxing ins Geschäft kommen möchte, freie Auswahl unter seinen sechs hübschen Töchtern an. Preising kann sich nicht entscheiden. Er will sich auch nicht entscheiden.

 

"Sicherlich war Preising schockiert, aber er war auch erklärter Kulturrelativist, und zwar von einer gänzlich unchauvinistischen Sorte. Sein Liberalismus war ein Relativismus von der handwarmen Art eines Kinderbeckens. Gleichwohl war er auf unseren Spaziergängen immer bereit, die Tugendethik wie eine Monstranz vor sich herzutragen." 

 

Nach diesen vielen neuen Eindrücken ist Preising froh, im Resort angekommen zu sein. Die weitläufige, traditonellen Beduinenzelten nachempfundene Hotelanlage (oder das, was sich der westliche Tourist unter traditionell vorstellt), ist gut besucht. Eine Gruppe von siebzig Menschen ist gemeinsam aus London angereist, um eine Hochzeit zu feiern. Preising kommt ins Gespräch mit den Eltern des Bräutigams, Pippa und Sanford, einer Lehrerin und einem Soziologieprofessor.

 

Ihr Sohn hat beruflich eine völlig andere Richtung eingeschlagen: er arbeitet in der Londoner City, er ist ein erfolgreicher Banker. All die anwesenden schönen jungen Leute, die selbst im Bikini aussehen, als würden sie Uniform tragen (gedeckte Farben, flache Bäuche, schmale Hüften, geschmeidige Bewegungen), sind Kollegen.

Ebenso erfolgreich oder zumindest auf dem Sprung nach oben und ganz oben.

 

"Pippa war hier, weil ihr Sohn beschlossen hatte, seine Hochzeit in einem tunesischen Oasenresort zu feiern, und zu diesem Zweck siebzig Freunde und Familienmitglieder hatte einfliegen lassen. Es war das, was sich ein in der City tätiges Paar unter einer standesgemäßen Hochzeit vorstellte."

 

Preising bemerkt später, dass sich die Hochzeit "nicht wesentlich von anderen Hochzeiten unterschied, ... jedoch in einer seltsam abgeklärten Stimmung stattfand."

 

Die ganze Welt der Gäste ist am Geld orientiert.

Sie benehmen sich so, wie sie es einstudiert haben, sie scheinen sich regelrecht Mühe zu geben, jedes Klischee zu erfüllen. Und bleiben dabei menschlich ziemlich blutleer, hinterlassen eher den Eindruck von Puppen.

 

Zum Leben erwachen sie, als plötzlich die Nachricht, England sei bankrott, die Runde macht. Die Blackberrys fiepen, das Fernsehen sendet Expertenrunden, die Ereignisse im Heimatland des Hedgefonds überschlagen sich.

Völlig unerwartet, innerhalb von wenigen Stunden, ist die berühmte Blase geplatzt. Lange schon geahnt und nun doch überraschend.

 

Mit beißender Ironie beschreibt Lüscher das Verhalten der Hotelgäste. Preising als Schweizer ist nicht davon betroffen, dass seine Kreditkarte plötzlich ein wertloses Stück Plastik ist, er bekommt noch ein Frühstück. Die anderen Gäste werden gebeten, so schnell wie möglich das Hotel zu verlassen. Doch die Ereignisse überschlagen sich dermaßen, dass auch Saida, die Tochter des Geschäftspartners, die Preising "betreut" hatte, nun selbst fluchtartig das Resort verlassen muss. Sie ist Teil der korrupten Elite des Landes, die hinweggefegt wird.

 

Hotelgäste gelangen nach Wegfall der Rundumversorgung mittels brachialer Gewalt an Lebensmittel, die in Kühlanlagen verschlossen waren, Frauen werfen sich Männern an den Hals, die in abbezahlten Häusern leben (Sicherheit erscheint plötzlich wieder attraktiv), der eine ruft den Krieg aus, eine andere überlegt, dass sie schon immer eine kleine Bäckerei eröffnen wollte - die Schleusen werden in jede Richtung geöffnet.

 

Das große Finale bildet ein geschlachtetes Kamel, in dessen Eingeweiden zarte, perfekt manikürte Hände wühlen, während aus Sonnenliegen ein Feuer entfacht wird.

Mehr soll hier nicht verraten werden, nur soviel: alles endet in einem großen Inferno, für fast alle Beteiligten.

 

Sprachlich hochpräzise und mit sicherem Gespür für das Groteske beschreibt Löscher die Welt der Menschen, die das Wort "Kreislauf" nicht mit "Blut", sondern mit "Geld" ergänzen. Aber nicht nur verantwortungslose Banker, auch ein Mann wie Preising kommt nicht gut weg.

 

"...er glaubte zu wissen, dass das Geld letzten Endes nichts anderes als ein besonders wirkmächtiges Werkzeug war - nichts als ein Werkzeug zur Verwirklichung von Größerem, ja sogar Höherem...

Preising war natürlich nicht bereit, sich allzu viele Gedanken über das Größere und Höhere zu machen, zumindest war er nicht bereit, über das Gedankenmachen hinauszugehen, er war nicht bereit, die damit verbundene Verantwortung auf sich zu nehmen, und unterlief die an ihn gestellten Erwartungen damit, dass er sich einfach damit begnügte, reich zu sein, ich vermute, sogar stinkend reich, und ansonsten das Leben eines Durchschnittsbürger führte, mit Ausnahme seiner Haushälterin, die er sich leistete, weil sie ihm viele Entscheidungen des Alltags abnahm."

 

In der Geschichte fehlt nicht der Ausflug mit dem Geländewagen, verfolgt von Herren in Schwarz, es fehlt nicht der Bademeister, der einst Medaillen auf den langen Distanzen gewann, weil sein Großvater Hafenschwimmer gewesen war und ihn in die Kunst des Schwimmens eingeführt hatte, es fehlt nicht die bei einem Bibliotheks-brand ums Leben gekommene Tochter, es fehlt nicht der Hochzeitsgast aus der Mittelschicht, ein Gewerkschafter, der bei Tischgesprächen über Architektur gerne von den neuen Toiletten im Stadion berichtet, es fehlt auch nicht das bei der Hochzeitsfeier vorgetragene Gedicht, mit dem die Bräutigam-Mutter sich heillos blamiert.

 

Diese Elemente hätten leicht zu einer vorgestanzten Geschichte führen können.  Doch in der mit Prägnanz erzählten Novelle gibt es trotzdem genug Raum für sehr viele Farbtupfer, jeder einzelne davon ist eine Welt für sich.

Häufig zum Lachen, häufig bleibt das Lachen aber auch im Hals stecken.

 

Die Novelle, deren Kern immer eine "ungeheure Begebenheit" ist, wartet mit sehr vielen Ungeheuerlichkeiten auf. Und sie ist sehr gut komponiert, denn am Ende fügen sich Fäden zusammen, die schon weit vorher angelegt wurden.

Die ungeheuerlichste Ungeheuerlichkeit ist für mich nicht der Zusammenbruch des Finanzsystems Englands, sondern das abgestochene Kamel, mit dem eine haarsträubende Geschichte in die Tat umgesetzt werden sollte.

Sanford, der ordentliche Professor, hatte sich einen Spaß daraus gemacht, Preising zu erzählen, das traditionelle Hochzeitsmahl der Berber sei ein Kamel, das nach Art der russischen Matroschkapuppen mit immer kleiner werdenden Tieren gefüllt wird. Ganz innen befinde sich eine Dattel. Dieses Märchen wurde für bare Münze genommen und in ihm kulminiert die Novelle.

 

Lüscher hat eine Geschichte geschrieben, der es weder an Unterhaltungswert noch Tiefgang fehlt. Er gibt auf die Frage nach Barbarei und Zivilisation, die er zu Anfang stellt, bzw. auf die er mit einem Zitat von Franz Borkenau (ein Soziologe, der sich mit Anfang und Ende von Hochkulturen beschäftigt hat) hinweist, eine Antwort in Form seiner Novelle.

Das ist eine mit Spiegeln versehene Antwort.

 

 

 

 

 

 

 

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren

Beck Verlag, 2013, 125 Seiten

Taschenbuch bei btb, 2015, 125 Seiten