Sara Mesa - Die Familie

DIE Familie bezeichnet eine ganz bestimmte, zugleich steht der Artikel für die Familie an sich. Für jenen vermeintlichen Ort der Geborgenheit und Sicherheit, der Liebe und Solidari-tät. Sara Mesa, die Spezialistin für menschliche Beziehungen, nimmt eine Familie mit vier Kindern genau unter die Lupe und findet unter der freundli-chen Decke jede Menge Gestrüpp.

 

In diesem Gestrüpp aus Schuldgefühlen verheddern sich

alle, auch die Mutter, die vom Vater wie eines seiner Kinder behandelt wird, auch der Vater selbst, der unter seiner eigenen Strenge leidet.

 

Er betont, dass es in dieser Familie keine Geheimnisse gibt. Damit kaschiert er vor allem seine Neugier, denn er kann es kaum ertragen, dass Martina, die elfjährige Adoptivtocher, ein Tagebuch mit Schloss hat. Was mag sie da hinein geschrieben haben? Das Mädchen ist erst seit kurzem bei ihnen, eigentlich sind die Personen, die sie nun Vater und Mutter nennen soll, Onkel Damián und Tante Laura. Nach dem Tod ihrer Mutter war Martina einige Jahre bei der Großmutter, nun lebt sie wieder in einer richtigen Familie.

 

Martina bringt eine Perspektive von außen mit. Ihre neuen Geschwister Damián, Rosa und Aqulinio kennen dagegen nur eine Mutter, die ständig mit Hausarbeit beschäftigt ist, und einen Vater, der in seinem Arbeitszimmer studiert, der Gandhi verehrt und diesem geistig folgt. Es gibt keinen Fernseher, wie in jedem anderen Haushalt, es kommen keine Freunde zu Besuch, man macht weder Ausflüge noch Reisen. Die Familie ist völlig auf sich selbst konzentriert, was vor allem an den Ansichten und Vorgaben des Vaters liegt.

 

Als Anwalt hat sich der Vater der Gerechtigkeit verschrieben: "Anwalt wollte er werden, sagte er, um die Schwächsten zu schützen und ihre vielfach missachteten Rechte zu verteidigen. ... Sein Ziel war eine gerechtere, egalitärere Welt, in der die Gewalt endgültig ausgerottet war."

In diesem Zusammenhang steht für ihn auch die Gründung einer Familie:

"Mit ihm eine Familie zu gründen hieß, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das über sie als Einzelne hinausging, ja letzten Endes vielmehr auf einen allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt abzielte."

 

Er verfolgt nichts als hehre Ziele. Um sie zu erreichen, muss er zunächst Laura "den Weg zur Wahrheit weisen", er muss sie aufklären. In der besten Absicht bricht er ihren Willen und Widerstand. Danach erleben sie gemeinsam eine "geradezu harmonische Zeit fast ohne Streitereien."

 

Damián, der Erstgeborene, ist ein "feiges, ängstliches" Kind. Er lernt früh, dass es besser ist, zu schweigen. Er entwickelt einen einzigen Wunsch, seinem Vater zu gefallen. Er hat keinen eigenen Willen, weiß außerhalb der Wohnung nicht, wie er sich verhalten soll. Als er fünfzehn ist, wird er vom Vater dazu auserkoren, Spenden für die Organisation zu sammeln. Das bringt ihn an den Rand seiner Möglichkeiten.

In der besten Absicht, seinen Sohn auf den rechten Weg zu bringen, wird Damián gedemütigt, er wagt es auch als Student nicht, zuzugeben, dass er sein Studium längst abgebrochen hat, und seine Zeit in der Bibliothek verbringt, um den Schein zu wahren.

 

Auch seine Schwester Rosa bricht ihr Studium ab. Sie rebel-liert, indem sie die vielen Regeln zuhause unterläuft. Sie schleicht sich nachts hinaus, geht auf Partys, wird schließlich schwanger. Man ist nicht religiös in dieser Familie, aber das ist eine Todsünde. Sie klaut, vernachlässigt ihr Kind. Zum Glück nehmen ihre Eltern die Kleine in der ganz schwierigen Zeit zu sich.

Rosas Gedanken über sich selbst:

"Das Monster hingegen, das das Schicksal für sie ausgewählt hatte, war grob und schmutzig. Beschämend und nieder-trächtig. Hässlich. Unerträglich, unmoralisch und hässlich."

Das Monster haust "in ihrem Inneren", sie ist dieses Monster.

 

Alle Familienmitglieder haben Schuldgefühle, keiner kann die Ansprüche des Vaters (der im übrigen nur den Anschein erweckt, Anwalt zu sein, es stellt sich heraus, dass er Sach-bearbeiter in einer Kanzlei ist) erfüllen. So zieht sich das Thema Schuld wie ein Mycel durch den gesamten Roman.

 

Es gibt nur einen, der davon frei ist, Aquilino, der jüngste.

Er kann fantastisch zeichnen, vielleicht zieht er daraus sein Selbstvertrauen. Als er neun Jahre alt ist, beschließt er, seinen Namen in Aqui abzukürzen. Um seine Entschlossen-heit zu bekunden, läuft er von zu Hause weg.

"Irgendwann befiel ihn eine leuchtende und verführerische Vision. Er dachte - nein, es wurde ihm klar -, dass er sein ganzes Leben so weitermachen könnte, immerzu wandern und neue Orte entdecken, selbst über die Richtung entscheiden, die er einschlagen würde..."

 

Bis auf wenige Ausnahmen, in denen die Familie als Ganzes zu sehen ist, stellt Sara Mesa in den meisten Kapiteln eine Person in den Mittelpunkt. Hier sieht man sie als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene agieren, hier wird, im Kontakt mit anderen Menschen und mit der Welt, ihr Charakter deutlich. Es wird auch deutlich, dass die Prägungen der Familie kaum abzulegen sind.

 

Das Wechselspiel verschiedner Zeiten und Lebensphasen, die Schlaglichter, die nicht zur Kernfamilie gehörende Personen, wie der lustige Onkel Óscar oder eine fremde Frau, die Vater eines Tages mit nach Hause bringt (warum?), auf jeden Einzelnen werfen, erzeugen einen Sog. Immer wieder aus einer anderen Perspektive beleuchtet, zeichnet Sara Mesa komplexe Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Auch wenn alle, bis auf Martina, aus dem gleichen Nest stammen.

 

Die Familie ist eine Brutstätte von Verstellung, Duckmäuser-tum und Lügen. In der von Sara Mesa porträtierten Familie wird auf die Spitze getrieben, wohin ein geschlossenes System führen kann. Aber auch verschiedene Arten, damit umzugehen, stille oder offene Rebellion.

 

In ihrem Vorgängerroman Quasi konfrontiert die 1976 geborene Autorin die Erwartungen der Gesellschaft mit dem tatsächlichen Geschehen. Ein junges Mädchen und ein komischer Alter treffen sich täglich im Park, abgeschirmt in einem Versteck. Diese Konstellation lässt einen bestimmten Film an Erwartungen ablaufen. In Wirklichkeit ist nichts eindeutig.

In ihrem Roman Eine Liebe lotet sie ebenfalls moralische Grauzonen aus, treffen innere Abgründe auf vorgefertigte Schablonen.

Beide Romane sind auf zwei Personen konzentriert, die innerhalb des sozialen Gefüges versuchen, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben.

 

"Die Familie" geht an die kleinste Einheit der Gesellschaft,

an deren Wurzel. Hier wird ein hierarchisches System vorgeführt, das ohne jegliche Anwendung körperlicher Gewalt, das allein mit Schuld und Scham funktioniert, und in dessen dunkle Ecken die Autorin mit einem gewissen grimmigen Humor blickt.

 

Große Empfehlung!

 

 

 

 

 

 

 

 

Sara Mesa: Die Familie

Aus dem Spaischen von Peter Kultzen

Verlag Klaus Wagenbach, 2025, 240 Seiten

(Originalausgabe 2022)