Sara Mesa - Quasi

"Ab wann genau wird ein Unbekannter zu einem potentiellen Freund und hört auf, eine potentielle Gefahr zu sein?"

Wie offen können zwei Menschen einander begegnen? Vor allem dann, wenn der Altersunterschied vierzig Jahre beträgt, wenn er ein komischer Alter ist und sie "quasi vierzehn", also dreizehn? Wenn sie sich im Park begegnen, genauer: im Gebüsch?

 

Sara Mesas vierter Roman, der in Spanien sofort sehr erfolgreich war, trifft einen Nerv der Zeit. 1976 geboren, gehört sie zur Generation junger Autorinnen, die sehr genau auf hierarchische Strukturen in der Sprache, im Benehmen und in Begegnungen achten. 

In der Geschichte von Quasi (diesen Namen gibt er ihr) und dem Alten (so nennt sie ihn) hat sie nicht nur die per se anrüchige Freundschaft, sondern auch die Reaktion der Gesellschaft reflektiert - diese basiert weder auf Zuhören noch auf Empathie, sie stülpt ein fertiges Konzept über ein Geschehen, das (zugegebenermaßen) doppelbödig ist.

 

Den ganzen Roman hindurch habe ich mich in einer starken Anspannung befunden, immer bereit für das Schlimmste. Es kam nicht so, wie es hätte kommen müssen, bzw es kam auf eine andere Weise - wie sehr ist man doch geprägt von den Verhaltensmustern, die hier durch die Eltern, die Polizei, die Psychologen repräsentiert werden. 

 

Die Psychologen kommen ganz schlecht weg, denn, wie Quasi ganz am Ende sagt:

"Für wen halten die sich? Wieso bilden die sich ein, sie könnten uns verstehen?"

Und: "Über Sexualität hatte sie dagegen nie gesprochen, warum brachte die Frau dann alles, was sie gesagt hatte, damit in Verbindung? ... Diese Frau ist krank, sagte sich Quasi, krank vor lauter Psychologie."

 

Die Geschichte: Quasi schwänzt die Schule. Sie begibt sich in den Park, setzt sich in ein größeres Gebüsch, schaut Mädchenzeitschriften an. Zufällig betritt ein alter Mann dieses Versteck. Er ist ein begeisterter Vogelkundler und immer auf der Suche nach seinen gefiederten Freunden. 

Er fragt nicht "Was machst du hier, um diese Uhrzeit?", sondern er erkundigt sich nach der Zeitschrift, erzählt, dass auch er Zeitschriften liest, solche, in denen es um Vögel geht.

 

Dass der Alte seltsam ist, ist dem Mädchen sofort klar. 

Er "spricht wie ein Kind - mit der Selbstvergessenheit und Begeisterung eines Kindes".

Er kommt nun täglich in ihr Versteck. Er spricht über nichts anderes als Vögel und die Musik von Nina Simone.

Niemals nähert er sich Quasi, sie ist und bleibt jedoch miss-trauisch, schließlich hat sie schon immer eingetrichtert bekommen, niemals einem fremden Mann zu trauen.

Nicht einem Mann, der so seltsam gekleidet ist, so merk-würdig spricht und so viel älter ist als sie.

 

Er ist zurückhaltend, behandelt sie von gleich zu gleich, versucht nicht, sie auszuforschen, wie andere Erwachsene es tun. Dafür ist sie ihm dankbar.

Aber warum ist er so? Will er sich langsam ihr Vertrauen erschleichen?

Er erzählt ein bisschen von sich. Sie erfährt lauter unange-nehme Dinge. Er spricht von Kliniken, in denen er gequält wurde, von seiner Mutter, die in einem Heim lebt, von einem Großvater, der auch sein Vater war, von Verdächtigungen gegen ihn...

 

Wie zu erwarten, kommt irgendwann ein Brief von der Schule. Eines Tages steht die Polizei vor der Tür.  Quasi war monatelang nicht in der Schule. Sie hatte sich mittels Anmeldung an einer neuen Schule (ohne dort jemals aufzu-tauchen) lange den Behörden entziehen können, nun ist klar, dass sie die neue Schule nie betreten hat.

 

Quasi hat Tagebuch geführt. Dieses Dokument bringt schließlich die ganze Maschinerie ins Rollen.

Es kommt zur Verhaftung des Alten, was (anscheinend) im Park geschehen ist, ist natürlich wesentlich wichtiger als ihr Schwänzen, keine Silbe des Vorwurfs von ihren Eltern bekommt sie zu hören. 

 

Quasis im Ausland lebender Bruder reist an, um ihr beizustehen. Doch er hat die Seiten gewechselt, er steht nun auf Seiten der Eltern, ist ein Teil derer geworden, die nicht zuhören, keine "Wärme geben", sondern "Ratschläge erteilen." Sie kann ihm kein Geheimnis mehr erzählen - damit ist der Alte, ein Außenseiter wie sie, der einzig Verbliebene, dem sie vertrauen kann.

Doch ihm gegenüber trägt sie eine große Schuld mit sich herum.....

 

 

Ein Erzähler betrachtet die Personen von außen, berichtet, was passiert. Während der Alte durch das geschildert wird, was er im Moment tut, und das Wenige, was er von sich preis gibt, erhält die Stimme des Mädchens ein stärkeres Gewicht - es  ist zu lesen, welche Gedanken ihr durch den Kopf gehen. Dadurch lernt man sie persönlich, aber auch ihre Familie, die Lehrer, Klassenkameradinnen (Freundinnen hat sie keine) , das, was ich als `Gesellschaft` bezeichnet habe, kennen - und damit die Erwartungen, die an die junge Frau herangetragen werden, schon immer wurden.

 

In dieses Gespinst von Stimmen dringt plötzlich die Stimme dieses Fremden, die keine Erwartungen hat - ein unbekann-tes und damit verwirrendes Verhalten, auf das Quasi nicht vorbereitet ist, und mit dem sie nicht umgehen kann.

 

Dieses ist der erste Roman Sara Mesas, der auf Deutsch erscheint, bleibt zu hoffen, dass bald mehr von ihr zu lesen sein wird. Sie versteht es, mit sparsamen Mitteln ein eng-maschiges Netz zu weben, mit dem sie die LeserInnen für ihre Geschichte gefangen nimmt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sara Mesa: Quasi

Übersetzt von Peter Kultzen

Wagenbach Verlag, 2020, 144 Seiten

(Originalausgabe 2018)