Céline Minard - Das große Spiel

"Wir sind keine Zweifüßler. ...

Wir sind Vierfüßler oder Dreifüßler, das ist ein Fakt. Seit dem Homo erectus versuchen wir, das Gegenteil zu leben und zu beweisen. Wem? Unseren Verwandten, den Affen? Den Fischen, die das ziemlich kalt lässt? Den Vögeln, die in ihr Federkleid kichern?

Dem Nachbarn, der pfeifend auf seiner Parzelle steht, während er seine Grashüpfer grillt? Uns selbst? Ist es ein Versprechen, das wir uns gaben? Eine Technik, eine Methode, die wir gefunden haben? Wirkungsvoll für die Jagd, die Fortbewegung, die Begegnung? Hat man einst geglaubt, dass dies die ersten Schritte wären, um loszufliegen, weil nur die Vögel sie wirklich beherrschen? Und ich, bin ich bloß dickköpfig oder verliere ich die Bodenhaftung, zehn Stunden am Tag auf einem Seil, gebeugt, beim Versuch den Raum zwischen zwei Schuppen eines Drachen zu überwinden, der seit dem Pliozän vernebelt ist?"

 

Das "Ich", das hier erzählt, ist eine Frau, die sich in die Berge zurückgezogen hat. Für ein Experiment, sie nennt es "Training" oder "Behandlung". Sie hat sich in der unberührten Natur ein ca. 20 Hektar großes Gebiet gekauft und dort ihre technisch ausgeklügelte "Lebensröhre" aufbauen lassen.

Diese ist fest auf einem Granitvorsprung verankert, ragt

halb über den Abgrund und bietet einen Rundumblick.

Sie ist völlig autark und garantiert Sicherheit, auch bei Gewittern oder Sturm.

 

Präzise, fast schon penibel, berichtet die Erzählerin, wie sie ihre Umgebung erkundet, untersucht, in sich aufnimmt.

Die Felsformen, die Wegmarkierungen, die sie anlegt, die Kletterhaken, die sie anbringt. Es gibt einen See, sie angelt, sie legt einen Garten an, sie benutzt ihr "Sanitätsmodul".

Sie beobachtet die Tiere und fühlt sich von ihnen "wahrgenommen und kommentiert." Sie schreibt in ihre Hefte, manchmal spielt sie Cello. Vor allem aber streift sie sehr viel in den Bergen umher, immer ganz Wahrnehmung.

Und immer bereit, all das Aufgenommene im Geist zu wenden und in eine grundsätzliche Frage umzuformen.

 

"Ich kann mich, wenn ich beim Klettern allein unterwegs bin, selbst absichern. ...An welchen Felshaken, mit welchem Grigri an welches Seil soll man den Lauf eines Lebens knüpfen? Wie soll man die richtige Distanz zu dem halten, was kommt, mit welchen Mitteln? Mit welchen Regeln, mit welcher Führung und wie soll man sie beurteilen?"

 

Diese allgemeinen, grundsätzlichen und philosophischen Fragen und Überlegungen stellt in aller Regel ein man oder ein wir an.

Ansonsten habe ich wohl noch nie ein Buch gelesen, in dem so häufig das Wort ich vorkommt.

Das bewirkt, dass der Leser eine sehr intensive Zeit mit dieser Erzählerin verbringt, die ihr Leben so detailliert schildert. Da ihr jede Art von Romantik fremd ist, weder gibt es hymnische Beschreibungen noch verbindet sich ihr Herz mit irgendetwas, steht dieser Roman nicht in der Tradition des Nature Writing, das momentan wieder Konjunktur hat und den Leser mitnimmt in die Natur, ihm die Welt zeigt.

 

Der Frau, mit der man es hier zu tun hat, geht es um sich selbst. Die Einsamkeit ist das Trainigscamp, was sie sucht ist das Leben an sich. Dieses nennt sie "das große Spiel" und stellt auch die Frage: "Kann man mit sich selbst spielen?"

Oder sich selbst überraschen?

Könnte sie das Leben finden, wenn nicht ein anderes Wesen in dieser Einsamkeit leben würde? Kein Tier, sondern eines mit Verstand und menschlicher Intelligenz?

 

Einmal vernimmt sie ein lautes Klopfen. Ein Berggeist?

Es verschwinden Dinge. Die berühmte diebische Elster?

Kletterhaken wurden entfernt - das schafft kein Tier.

Ein Riemen, wie er zur Sicherung am Berg benutzt wird,

liegt auf dem Boden. Er markiert eine Grenze. 

Kann es sein, dass jemand ihr ihr Gebiet streitig machen möchte? Es kommt zu einer archaischen Art von Revier-kampf, das Spiel wird auf einen weiteren Gipfel getrieben.

 

Im Sinnbild des Seiltanzes, wie er im oben zitierten Abschnitt beschrieben wird, verdichtet sich noch einmal mehr die Suche nach dem adäquaten Platz des Menschen.

Er scheint auf einer sehr wackeligen Grundlage in luftiger Höhe und unter tödlicher Gefahr zu liegen. 

Die beiden Schuppen eines Drachen, das sind zwei Spitzen eines Berges, dazwischen die Leere. Kann man von der einen auf die andere gelangen, ohne den Boden zu berühren?

 

Wichtig sind die Überlegungen zu Spiel, Versprechen, Drohung, Verpflichtung, Regeln und Modi, Rettung - und immer wieder Einsamkeit. Sie ist das Experiment.

Als Einzelner den Elementarkräften ausgesetzt sein, ohne Aussicht auf Rettung - ist das das Leben?

 

Der Roman ist ein intellektuelles Spiel mit dem Leser.

Keine Vermessung der Welt, keine Suche nach Innerlichkeit.

Um seinen Duktus noch einmal deutlich zu machen, hier ein Abschnitt, der am Ende des vierten von sechs Teilen steht.

 

"Muss man, um überhaupt spielen zu können, sei es nun Schach, Poker oder Papierkügelchen, einen Sinn für das Versprechen, für die Drohung haben? Muss man in der Lage sein, die Drohung zu verspüren, den Pakt des Versprechens einzugehen? Kann man einen Pakt eingehen, der kein Versprechen ist? 

Man müsste eine Form des Spiels erfinden, die eine Verpflichtung ohne Gegenleistung enthielte und eine reine, unpersönliche, beziehungslose Drohung. Die Verpflichtung hätte als Motiv nicht den Gewinn, die Drohung hätte nicht die Unterwerfung als Ziel. Ein leeres Spiel, dessen Modus die Regel selbst wäre. Eine dehnbare Regel, die sich schlagartig verändern würde, ohne je das Spiel zu zerstören.

Die Methode? Nein. Das Leben? Würde ein Idiot so etwas spielen? Oder vielleicht könnte nur ein Idiot es spielen:

das Leben? Er würde angemessen spielen, im vollen Bewusstsein, konzentriert auf den Atem des Spiels, das für denjenigen unzugänglich wird, desse Aufmerksamkeit abgelenkt ist." 

 

Der Mut, sich den Kräften der Natur auszusetzen, ist die Vorübung für den Mut, den es braucht, sich dem Leben

ganz und gar auszusetzen. Um diesen in der Erzählerin zu entfachen braucht es ein Gegenüber.

Damit wäre ihr Experiment gescheitert - "...ich trainiere und versuche herauszufinden, ob man im Abseits leben kann, nachdem ich davon ausgegangen bin, dass man es kann und dies eine der notwendigen Bedingungen darstellt, um Seelenfrieden zu finden" -  doch das ist es nicht.

Das wäre zu klein gedacht, hier geht es um das Große.

Und das auf sehr faszinierende Weise.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Céline Minard: Das große Spiel

Übersetzt von Nathalie Mälzer

Matthes & Seitz Verlag, 2018, 192 Seiten

(Originalausgabe 2016)