Boris Schapiro - Aufgezeichnete Transzendenz

Boris Schapiro: in Deutschland ist er ein eher unbekannter Künstler, in Russland gilt er als Klassiker.

1944 kam er in Moskau zur Welt.

Der studierte Mathematiker, Physiker und Philosoph wäre beinahe Pianist geworden, hätte ein Unfall diesen Wunsch nicht verhindert. Ein vielseitig begabter Mensch also, der im Alter von zwölf Jahren begann, Gedichte zu schreiben. Der mit einunddreißig ins Exil nach Deutschland ging, der sich stets mit seinem jüdischen Glauben und der Religion im allgemeinen  auseinandersetzte, der die Dichtung als Auftrag sieht:

das Schöpferische des Gedichts bedeutet für ihn Selbst-schöpfung, des Dichters, des Lesers. 

 

Ein hoher ethischer Anspruch also, hinter dem jedoch in keiner Weise der künstlerische zurücksteht.

Zwar "verwirft Schapiro (ein Gedicht), das ihn nicht wenigstens um eine Nuance anders oder gar besser macht", so Hella Schapiro in ihrem erhellenden Nachwort, genauso dürfte er Gedichte verwerfen, die nicht klingen, keinen Rhythmus haben, nicht gesungen werden könnten.

 

Die Lyrik Schapiros speist sich aus dem alten griechischen Quell des Gesangs, der die vorgetragenen Gedichte zusammen mit der Lyra begleitete. 

 

Der Band "Aufgezeichnete Transzendenz" besteht aus zwei Teilen: "Kryptographie Lunar" und"Seraphische Hymnen".

Die Kryptographie ist die Wissenschaft des Verschlüsselten, des Geheimen. Lunar verweist auf die der Erde zugewandte sichtbare Seite des Mondes und der unsichtbaren, deshalb aber genauso anwesenden Rückseite - der Dichter Schapiro möchte das Unsichtbare sichtbar machen, das Unsagbare sagen. 

 

Mit allen der Dichtkunst zur Verfügung stehenden Mitteln, vor allem jedoch mit der Bemühung um Klarheit und Unzweideutigkeit, hat er sich einem Aufklärungsprojekt verschrieben, das für die Leser ein Quell der Freude und Inspiration ist. 

 

Ein Gedicht, das mit den Worten "Bessere Welt" beginnt, endet mit den Versen

 

"Und die Seele, die Seele steigt  

                   und singt sich weit fort 

                                    wie ein Rotkehlchen, das seinen Tod 

                                                      aus Versehen verloren."

 

Ich möchte dies Zeilen nicht deuten, das mögen die Leser selbst. Ich möchte ein Beispiel geben für die Klarheit und Schönheit des Stils und der darin enthaltenen Welt an Gedanken, des unendlichen Kosmos an Gedanken.

 

Immer wieder spricht der Dichter seine Leser direkt an.

Er nimmt die Wörter beim Wort - "Wo ist der Mond, wenn wir ihn nicht wahrnehmen? Was ist denn wahr, das wir ihm nehmen wollen?" und er streut Hinweise auf seine Biographie ein - die klassischen Elemente der Dichtung. 

 

Doch die "Aufgezeichnete Transzendenz" beleuchtet die Vorderseite des Mondes mit dem Licht der Rückseite, lässt aufscheinen, durchscheinen, durchtönen. 

Per sonare, die Stimme des Schauspielers klingt durch die Maske, der Klang enthüllt die Person oder Persönlichkeit dessen, der spricht.

 

Die Gedichte Schapiros entstehen in ihrem Nachvollzug durch die Leser, durch das Nach-hören ihres Klanges.

 

Manche Gedichte klingen aus in Punkten, in von Aiolos verwehten Worten.   

Hölderlins "Komm! ins Offene, Freund!" klingt an - in meinen Ohren klingt überhaupt viel Hölderlin mit in diesen Gedichten, das ist ganz offensichtlich:

 

"Sichtbar dafür ist der Wein,

die noch verbliebene Hälfte

des Weins, des Lebens, das Rot.

 

Schweres Burgundrot erhellt

zwischen den Zeilen.

Die Buchstaben tanzen,

 

die Tage. Eine Hälfte des Tags

klopft an der roten Tür

der anderen Hälfte.

 

Sie zu öffnen beflügelt sich keiner.

Die Tür steht weit offen wie frisch

umgeblätterte Seite.

 

Entzündete Syntax. Wir werden

endlich gesund. Endlich werden.

Endlich gesund."

 

Hier ist der junge und noch hoffnungsvolle Hölderlin übergegangen in den stammelnden Scardanelli - der Dichter Schapiro beschreitet den Weg des Nachvollzugs, eine Einladung an jedweden Leser, sich auf die unbekannten Pfade eines Dichters zu begeben, ihm zu lauschen, sich zu öffnen, sich ins Offene zu wagen.

 

Auch anderen Dichtern und Denkern erweist er seine Referenz, Paul Celan etwa, dem Humanisten Heinrich Bebel oder  Omar Chajjam - ich erwähne dies, um zu zeigen, aus welchen dichterischen Quellen sich die Poesie Schapiros speist.

 

Eine andere wichtige Quelle ist die Religion.

Viele mit "Psalm" überschriebene Gedichte finden sich vor allem im zweiten Teil. "Seraphische Hymnen", Preislieder an engelgleiche Erscheinungen.

Das erste Gedicht dieser Sammlung: "Die Welt ist eins" - dieser Titel verdiente ein Ausrufezeichen.

Das Gedicht ist ein Hymnus an die Liebe - die göttliche, menschliche, zum Leben und zum Tod, die allumfassende.

 

Das Erhabene, Ewiggültige findet in der Lyrik Boris Schapiros seinen Platz neben dem Zauber des Augenblicks.

Die Dichtung verwandelt. Das Unsagbare in das Gesagte und das Unvorhersehbare in das Unabwendbare.

Sie verwandelt Dichter und Leser, die Menschen.

 

Zum Schluss noch einige wunderbare Zeilen aus dem Poem "Papiergeräusche":

 

"Die Liebe war vor dem Leben

und vor der Liebe.

 

Die Liebe war vor der Liebe

und vor dem Anfang.

Sie war."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Boris Schapiro: Aufgezeichnete Transzendenz

PalmArtPress, 2019, 200 Seiten