Nina Bouraoui - Erfüllung

"Meine Hefte folgen dem Lauf meines Wahnsinns, treiben seine gefährlichen Wasser hinunter. Ich habe mir meinen Abgrund selbst geschaffen." In ihren Heften verzeichnet die Enddreißigerin Michéle Akli ihren täglichen Kampf mit ihren Gefühlen. Die Liebe zu ihrem Mann Brahim, dem die Französin 1962 nach Algerien folgte, ist in dem Maß gestorben, in dem die zu ihrem Sohn Erwan, zehn, zunahm. Nun, Ende der 1970er Jahre, gerät sie vollends ins Schlingern, denn Erwans Kindheit neigt sich dem Ende zu.

 

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen in Algerien, die sie mal mit Distanz, mal mit Angst wahrnimmt, kreist sie vor allem um ihre eigene Unsicherheit.

Sie gleicht die Rollen der Ehefrau, der Hausfrau, der Mutter miteinander ab, sie versucht, die innere Leere mit Alkohol zu füllen, sie widmet sich mit verbissener Leidenschaft ihrem Garten. 

 

"Mein Platz ist ihn meinem Garten, hier pflanze und hege ich, ich habe der Zivilisation entsagt, ich bin der Stein und die Ranke, die ihn umschlingt."

 

Der gepflegte Garten, der ständig beschützt werden muss, steht im krassen Gegensatz zum Labyrinth Algiers, an dessen Rand die Familie lebt. Brahim besitzt eine Papier-fabrik, die ausgebildete Lehrerin Michéle arbeitet nicht.

"Ein eigenes Einkommen gäbe mir das Gefühl, Brahim zu verraten." Später wird sie doch eine Tätigkeit in der Schul-bibliothek aufnehmen, doch diese hat auch den Sinn, ihrem geliebten Erwan zumindest räumlich nahe sein zu können.

 

In dieses enge Familienleben platzt völlig unerwartet ein neuer Freund Erwans. Michéle hält das Kind zunächst für einen Jungen, doch es ist ein Mädchen. Sie ist neu in der Klasse, nennt sich Bruce nach Bruce Lee, und entfacht auf der Stelle eine überwältigende Eifersucht in Michéle.

 

"Ich gebe ihr keine Chance. Ich kenne sie nicht, und doch ist sie schon meine erklärte Feindin. Ich bin von Bruce besessen." Michéle fühlt sich "beraubt".

 

Wer mag die Mutter dieses die Grenzen der Geschlechter sprengenden, wilden Kindes sein, die ihrer Tochter so viel Freiheit in der Entwicklung lässt?

Michéle lernt sie bald kennen. Erwan lädt die neue Freundin und ihre Mutter Catherine in eine geheime Badebucht der Familie Akli ein. Bereits dies empfindet Michéle als Verrat,

es wird nicht der letzte sein. Es ist unmöglich für sie zu akzeptieren, dass ihr Sohn anfängt, eigene Wege zu gehen. 

Und Catherine bringt sie vollends aus dem Takt.

 

"Sie ist Geliebte und Ehefrau. Ich sehe sie nicht als Mutter.

Sie hat keine Kindheit. Sie ist die erste Frau. Sie ist die Frau aller Frauen, ihr Platz ist an der Spitze der Pyramide.

Sie verkörpert Weiblichkeit, Gewandtheit, wilde Lust und Verlangen nach Männern - so meine Vorstellung in meiner kleinen, abgeschiedenen Welt. Sie ist niemals Beute. Kaum hat man sich ihr genähert, hat man sie auch schon verloren. Catherine."

 

Michéle, deren Denken immer wieder um die Fragen von Weiblichkeit und Männlichkeit kreisen, die ihr Begehren zwar mit Brahim auslebt, ohne ihn noch zu lieben, erschafft eine "Vision" von Catherine, die ihre eigenen Träume, Ängste und Sehnsüchte reflektiert.

 

Nina Bouraoui entwirft mit Michéle eine Figur, in der sich tiefste Einsamkeit und Melancholie, zunehmender Wahn und das Gefühl, nirgendwo zu genügen, eingenistet haben. Konsequent aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, ohne Dialoge oder eine zweite Stimme geschrieben, entwirft sie das eindringliche und intime Porträt einer Frau, der das Leben abhanden kommt. Die es als Bedrohung wahrnimmt.

 

Die Autorin stellt Michéle und Catherine, Erwan und Bruce, Brahim und Bruces Vater Amar einander gegenüber, wie den Garten und die Stadt. Im letzten Kapitel kommt noch Henri Thomas hinzu, Kulturattaché in Algier. Diese singuläre Figur steht für den französischen, freien Mann, den Nachfahren der Kolonisatoren als Gegensatz zum Araber. Mit und in ihm kulminiert die Geschichte von Sucht und Eifersucht, von nicht gelebtem Leben, von Verrat.

 

In ihrem vorigen Roman "Geiseln" widmete sich Nina Bouraoui, geb. 1967, die ihre Kindheit und Jugend in Algerien verbrachte, mittlerweile in Paris lebt und eine der führenden Schriftstellerinnen ihrer Generation ist, einer arbeitenden Frau, und mit ihr den Bedingungen der modernen Arbeits-welt. Nun hat sie sich Michéle zugewandt, die ihr Glück vergebens im Privatleben sucht.

 

Sie leidet nicht nur an der "Langeweile der Auslandsfranzö-sinnen", an der im Land herrschenden männlichen Gewalt, sie leidet auch an einem merkwürdigen Bild von Weiblich-keit. Es sind Sätze zu lesen wie:

 

"Bruce wird Erwan nicht umbringen; sie bringt sich selbst um, sie hat das Mädchen in sich getötet, um den Junger zur Welt zu bringen. ... Aber man kann sich nicht ungestraft gegen sie Natur wenden, in sein angeborenes Geschlecht eingreifen, sich gegen den Lauf der Welt stemmen - ich bewundere sie nicht mehr, ich habe Mitleid mit ihr und ihrem stillen Leiden. Über ihr Schicksal zu klagen, hieße,

den Mord einzugestehen."

 

Oder auch:

"Mein Sohn ist mein Fleisch und meine Milch: Die Bande

der Mahlzeiten, die ich für ihn koche, wird Bruce niemals zerreißen können."

Und:

"Unsere natürliche Bindung ist stärker als die einer Liebesbeziehung, die immer bedroht bleibt, denn die Liebe eines Fremden ist nicht selbstverständlich."

 

Solche Positionen sind sehr fraglich, aber der Roman spielt 1977/78, man muss ihn in seiner Zeit sehen.  

Man muss auch nicht mit ihren Aussagen übereinstimmen, die Michéle selbst immer wieder als "Wahn" bezeichnet und damit relativiert und zeigt, wie unsicher sie ist, um sich in den Bann der sprachlichen Kraft von Michéles Monolog ziehen zu lassen. In den "sieben Heften" baut Nina Bouraoui eine faszinierende Geschichte auf, deren Originaltitel "Satisfaction" lautet. Ob die Erfüllung oder Befriedigung im Verrat liegt, mag jeder Lesende selbst entscheiden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nina Bouraoui: Erfüllung

Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet

Elster und Salis, 2022, 226 Seiten

(Originalausgabe 2021)