Nina Bouraoui - Geiseln

Sylvie Meyer ist Anfang fünfzig, hat zwei Söhne, arbeitet als rechte Hand des Chefs seit Jahren für die gleiche Firma, hatte nie revolutionäre Tendenzen, im Gegenteil.

Eines morgens verkündet ihr Mann: "Ich gehe." Auch das schluckt sie ohne große Reaktion, sie macht weiter wie bisher. Die Leere füllt sie mit Arbeit,

die zu ihrem Liebhaber wird.

 

Nina Bouraoui, geboren 1967, verfasste diesen Roman ursprünglich als Theaterstück, uraufgeführt wurde es 2015.

"Das Schicksal meiner Heldin hat sich immer enger mit den Geschehnissen unserer chaotischen Welt verbunden, und so habe ich eine neue Version geschrieben, die über das Theater hinausgeht, als Hommage an die Geiseln der Wirtschaft und der Liebe, die wir alle sind."

 

Der Roman ist ganz auf die Heldin Sylvie konzentriert, die über ihr Leben nachdenkt.

Es gibt lediglich eine weitere Stimme, die ihres Chefs Victor Andrieu, zu dessen "Resonanzkörper" sie geworden ist.

Sein Unternehmen gerät während der Finanzkrise in Schieflage, er überträgt Sylvie die undankbare Aufgabe, die Personen auszuwählen, die entlassen werden sollen.

 

Anfangs macht sie dieses klaglos mit, wie sie auch die Trennung von ihrem Mann hingenommen hat.

Doch irgendwann ist der Druck in ihrem Inneren so groß, dass sich eine "Explosion" anbahnt. Der aufgestaute Druck entlädt sich in einem Gewaltakt.

 

Gewalt ist das große Thema dieses Romans. Und mit ihr verknüpft die Themen Freiheit, Mann und Frau, oben und unten in der Gesellschaft.

 

Indem sie ihre Position in der Firma reflektiert, wird Sylvie eines klar: "Arbeit ist und bleibt Unterwerfung."

Sie erkennt, dass ihr Chef seine Macht über das Gesetz und über die Moral stellt. 

"Ein Typ hinter seinem Schreibtisch glaubt, er stünde über allen, Männern und Frauen. Er erlaubt sich, auf ihnen herumzutrampeln, mit ihren Nerven zu spielen, sie zu demütigen, denn es ist immer eine Demütigung, an der Arbeit anderer zu zweifeln, und das macht alles nur noch schlimmer, da ist Gefahr im Verzug. Es sind vielleicht nur kleine Stiche, aber nach hundert kleinen Stichen krepiert man einfach."

 

Die Machtverhältnisse im Beruf sind der eine Gedanken-strang, die im Privatleben der andere. 

Sylvie denkt vermehrt an ihre Kindheit, die Ehe ihrer Eltern, ihren ganz besonderen Sommer mit fünfzehn.

Ein winziger roter Fleck auf ihrer Kleidung verbindet das Ende ihrer Kindheit mit ihrem Hochzeitstag, schließlich mit ihrer Gegenwart.

Es dauert, bis ihr klar wird, was der rote Faden in ihrem Leben ist: Gewalt. Das hat sie sich lange nicht eingestanden, nun bricht sich ein Gefühl Bahn, zu viel hat sich in ihr eingenistet.

 

"Etwas, das in uns als Sediment liegt, bevor es eines Tages heraufkommt als ein nicht einzudämmender Schwall. Alles, was sich im Laufe eines Lebens angestaut hat. Das macht einen Menschen aus, das ist seine wahre Natur." 

 

Durch Vor- und Rückblicke, durch den Perspektivwechsel

zwischen Berufs- und Privatleben, Funktionieren und Selbst-ermächtigung, durch eine sehr klare und schnörkellose Sprache, kreiert Nina Bouraoui einen eindringlichen und weitblickenden Roman. Das individuelle Porträt ihrer Heldin Sylvie ist zugleich ein exemplarisches Bild einer Frau, die sich endlich ihren Gefühlen stellt - und den Zerwürfnissen unserer Zeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nina Bouraoui: Geiseln

Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet

Elster & Salis, 2021, 130 Seiten