Roland Freisitzer - Die Befreiung

In die Welt der klassischen Musik, die sich selbst als Hort der Hochkultur und Feinsinnigkeit betrachtet, führt dieser packende, erschütternde Roman. Die Heldin Clara Altwasser - ich schreibe bewusst Heldin, denn Protagonistin würde ihren Charakter nicht treffen - ist eine der ersten Frauen, die sich aufmacht, das Dirigentenpult zu erobern.

 

Das gelingt ihr nach einem Studium in Wien überraschend schnell. Sie erhält eine fundierte Ausbildung bei einem Professor, zu dem man ihr allerdings eine Affäre andichtet - wie sonst hätte sie so jung, so schnell erste Karriereschritte machen können?

 

Sein Rat an sie war:

"Du musst um mindestens fünf, wenn nicht zehn Klassen besser sein. Das ist verdammt unfair. Keine Frage. Es ist ungerecht und es ist frauenfeindlich. ... Die Musikwelt wird von einer Riege aus Männerfreundschaften regiert, die sich gegenseitig die Stange halten. ... Du musst dir ein wirklich dickes Fell zulegen und gut überlegen, mit wem du dich anlegst. Du darfst dir nichts gefallen lassen, aber pass bitte auf. In zehn oder zwanzig Jahren wird es vielleicht einfacher sein. Vielleicht schaffst du es, in der Szene eine Veränderung herbeizuführen. Ich wünsche es dir jedenfalls."

 

Mit Mitte zwanzig, d.h. um das Jahr 2010, hat sie sich bereits etabliert, verdient gut, fühlt sich frei. 

Da erhält sie das Angebot, bei einer Inszenierung in Salzburg dem gefeierten, weltberühmten Dirigenten Ferdinand Miesbach zu assistieren. So eine Offerte kann man nicht ablehnen. Sie weiß, dass sie bei allem, was mit der Opern-produktion zu tun hat, mitspielen muss, bis hin zu Essen und Drinks nach einer Aufführung.

Miesbach, der sie zuerst "Mädchen", dann "Liebste" nennt, der sich wie ein aufgeplusterter Gockel benimmt, macht ihr unmissverständlich klar, dass er die Fäden für ihr weiteres Leben als Dirigentin in der Hand hält. Claras Agent kann das nur bestätigen.

 

Miesbach wird Clara in seiner Suite brutal vergewaltigen. 

"Dann wollen wir uns doch endlich um die Karriere der kleinen Clara kümmern. Das willst du doch, nicht wahr?"

 

Clara schweigt jahrelang. Sie funktioniert, schafft es, in die Musik abzutauchen, die Erinnerungen zu überlagern, die Schreie in ihrem Inneren stumm zu schalten.

Bis Miesbach bei einem ihrer Konzerte auftaucht.

Nach acht Jahren geht sie zur Polizei. Diese verschleppt die Ermittlungen über mehrere Jahre. In dieser Zeit entfesselt Miesbach, der beste Medienkontakte hat, eine Hetzjagd gegen Clara. Sie hat absolut keine Chance gegen diese Mafia aus wichtigen Männern und sieht irgendwann keine andere Möglichkeit mehr, als unterzutauchen. Sie geht nach Kambodscha.

 

Dort kommt sie eines Abends mit einem einsamen Trinker ins Gespräch. Dieser ist Schriftsteller, Clara fasst Vertrauen zu ihm, erzählt ihm in einer langen Nacht ihre Geschichte. 

 

Claras Erzählung beginnt in ihrer Kindheit mit den ersten Schritten in der Musik. Sie berichtet von einer Tragödie, die sie komplett aus der Bahn warf. Sie erzählt vom zerrütteten Verhältnis zu ihrer Mutter, auch davon, dass diese jetzt bei ihr lebt, in einem Hotel in Phnom Penh. Sie wurde von ihrem untreuen Partner mit HIV infiziert, befindet sich in der letzten Phase ihres Lebens. 

Daniel, der Schriftsteller, spricht über seinen Roman,

zu dem ihn ein Nachbar inspirierte, der seine aus Thailand stammende Ehefrau schlug, erschlug. Er will über Prosti-tution schreiben, will die Männerwelt begreifen, ihre Brutalität, ihr Machtgefüge.

 

Diesen Anspruch hat auch Roland Freisitzer, geb. 1973, selbst Komponist und Dirigent. Er schichtet in diesem Roman die verschiedenen Erzählstränge schlüssig ineinander. 

Kapitel, die in Kambodscha, also in der Gegenwart, spielen und jene, in denen Clara ihre Geschichte erzählt, sind klug miteinander verwoben. Durch alle Teile zieht sich das Thema der weiblichen Verfügbarkeit. 

In Asien sind es die minderjährigen Prostituierten, hier ist das Problem offensichtlich. Silvia, Claras Mutter, wurde von Männern betrogen, missbraucht, ums Leben gebracht. Claras Leben endete mit der Vergewaltigung, die alte Clara gab es danach nicht mehr.

 

Sehr einfühlsam und sehr eindrücklich beschreibt der Autor Claras Gefühle, Gedanken und Entwicklung, auch ihren Weg zurück in die Welt. In eine ganz andere, nicht mehr die der klassischen Musik, aber eine, in der sie leben und in der sie auch mit der Mutter ihren Frieden schließen kann.

Clara, die Heldin, schafft es, sich von der Vergangenheit zu befreien. Das versöhnliche Ende wirft jedoch kein mildes Licht auf das, was ihr passiert ist. Im Gegenteil. Roland Freisitzer macht klar, dass vieles, aber nicht alles vergeben werden kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roland Freisitzer: Die Befreiung

Septime Verlag, 2023, 264 Seiten