Edem Awumey  - Nächtliche Erklärungen

Ito Baraka ist fünfundvierzig. Er weiß, dass er bald sterben wird, er leidet an Leukämie. Er lebt in einer Souterrain-wohnung in der Nähe von Ottawa, dorthin kam er vor zwanzig Jahren. 

Ein Stipendium hatte ihn nach Kanada gebracht, aus Ito hätte ein Schriftsteller werden können. Das hat nicht nur der Alkohol verhindert, mit dessen Hilfe er die Vergangenheit zu vergessen suchte.

 

Ito wurde in einem westafrikanischen Land geboren.

Wie der Autor des Romans, der 1975 in Lomé, der Hauptstadt Togos, zur Welt kam, und der heute ebenfalls in Kanada lebt.

 

Der Roman ist aus zwei Strängen komponiert. Es gibt einen Erzähler, der von der Gegenwart Itos berichtet. Der erzählt, wie Ito momentan lebt, von Kimi Blue spricht, der heroin-süchtigen Freundin, die die Hoffnung, er werde wieder gesund, noch nicht aufgegeben hat. Im Gegensatz zu Ito.

Ihr diktiert Ito am Ende seine Geschichte, denn er selbst ist da bereits zu schwach zum schreiben.

 

Dieser Text, den Ito schon vor Jahren angefangen hat, bildet den anderen Faden: er führt zurück nach Afrika.

Hier beschreibt Ito sein `altes´ Leben, vor allem seine Erfahrungen mit der Diktatur.

 

Als junger Student wollte er zusammen mit drei Freunden ein Theaterstück aufführen, "Endspiel" von Beckett.

Die vier hatten es adaptiert, die Rollen passten trefflich zum Leben der Freunde.

 

Zu einer richtigen Aufführung kam es nicht mehr, nach einer Aktion mit Flugblättern wurde Ito verhaftet. Zunächst nur er, doch unter Folter verriet er seine Freunde. Eine Scham, die weder die Zeit noch der Alkohol löschen können, entsteht daraus.

 

Doch die Literatur ist und bleibt ein Anker für Ito.

Auch im Lager, wo er seinem Freund und Mentor Koli Lem, der unter der sengenden Sonne erblindete, nachts in der gemeinsamen Zelle vorliest. 

Die Dichtung ist ein Land, aus dem sie niemand vertreiben kann, ein Gegenentwurf zur Wirklichkeit.

 

Die Diktatur, das Lager, die Folter überlebt Ito nur knapp.

Er kann fliehen, kehrt zurück zu seinen Eltern, um wenig später das Land zu verlassen.

 

Der Roman zeichnet die Umstände im Lager ebenso realistisch auf, wie die Situation Itos in Kanada.

Durch die beiden Erzählstränge entsteht eine Art Gespräch zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Zwischen Afrika und dem Westen - zwei Welten, die sich nicht vereinigen lassen. 

Und auch wenn Ito mit Hilfe des Rums sein altes Leben vergessen möchte, versucht er mit der letzten Kraft und Zeit, die ihm noch bleibt, seine Geschichte zu vollenden, sich all dem, was ihm und seinen Freunden passierte, zu stellen.

 

Der Titel könnte einem Gedanken des Romans entstammen:

"Aus welcher Nacht der Welt stammst du? Aus derjenigen, in der die Liebe im Duft der Frauen dir Flügel verleiht, oder der, die deine offenen Augen sich aufs Nichts richten läßt, auf eine Hölle, die längst von Eurydike und allen Gesichtern, aus denen Zärtlichkeit blickt, verlassen wurde? Wie mit welchen Worten, erklärst du deine Nacht?"

 

Der Roman ist der Versuch, diese Frage zu beantworten.

Er ist die Geschichte eines Lebens, eines Landes. 

Er ist dezidiert politisch. Das Land, aus dem Ito stammt,

wird namentlich nicht genannt, es könnte Togo sein.

Doch die Entwicklungen waren oder sind in diversen Ländern Afrikas ähnlich, Togo ist nur eines von vielen,

die mit den Hinterlassenschaften des Kolonialismus bis heute zu kämpfen haben.

 

Neben den realistischen Schilderungen arbeitet Edem Awumey mit starken Symbolen. 

 

Eines davon sind die Brüste der jungen Frauen, die die Revolution der Einheitspartei voranbringen sollen.

Sie sollten allen vor Augen führen, wie vital, "elektrisiert" und bereit, "alle Herausforderungen der Gegenwart wie der Zukunft zu meistern" die Partei ist. Die jungen Frauen werden später vergewaltigt, geschwängert, alleine gelassen und landen auf dem Strich. Ihre spitzen Brüste werden schlaff, ausgesaugt von "der gnadenlosen Brut" - sie sind Verweise auf die gescheiterte Revolution.

 

Ein anderes Bild, das mehrfach zitiert wird, ist Giacomettis Schreitender Mann. Ausgemergelt, vertrocknet, eine Haut wie Rinde, schreitet er "durch die Straßen einer brennenden Stadt ... wie ein Leichnam ohne Grab..."

 

Die Verschränkung der beiden Erzählungen, in die sich zudem einige Dialoge zwischen Ito und Kimi einfügen, mit dem von Symbolen durchsetzten Realismus, ergibt einen kunstfertigen, beeindruckenden Roman, der auch sehr zarte Stellen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Edem Awumey: Nächtliche Erklärungen

Übersetzt von Stefan Weidle

Weidle Verlag, 2020, 208 Seiten

(Originalausgabe 2013)